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Engels ~ Der Sozialismus in Deutschland


geschrieben Oktober 1891 und Januar 1892

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FRIEDRICH ENGELS

Der Sozialismus in Deutschland

Das Nachfolgende ist die Übersetzung eines Artikels, den ich auf Wunsch unsrer Pariser Freunde in französischer Sprache in den »Almanach du Parti Ouvrier pour 1892« schrieb. Sowohl den französischen wie den deutschen Sozialisten bin ich schuldig, ihn auch deutsch zu veröffentlichen. Den französischen, weil es in Deutschland bekannt werden muß, wie unverhohlen man mit ihnen den Fall erörtern kann, wo deutsche Sozialisten an einem Krieg, auch gegen Frankreich, unbedingt teilnehmen würden, und wie frei diese Franzosen sind von dem Chauvinismus und Revanchedurst, den alle bürgerlichen Parteien, von den Monarchisten bis zu den Radikalen, so prunkhaft zur Schau tragen. Den deutschen, weil diese ein Recht haben, von mir selbst in authentischer Weise zu erfahren, was ich den Franzosen über sie erzählt.

Es versteht sich von selbst – ich wiederhole es aber noch ausdrücklich –, daß ich in diesem Artikel nur in meinem eignen Namen spreche, keineswegs aber im Namen der deutschen Partei. Dazu haben nur die gewählten Behörden, Vertreter und Vertrauensmänner dieser Partei das Recht. Und zudem verbietet mir meine in fünfzigjähriger Arbeit erworbne internationale Stellung, als Vertreter dieser oder jener nationalen sozialistischen Partei, im Gegensatz zu den andern, aufzutreten, wenn sie mir auch nicht verbietet, mich zu erinnern, daß ich ein Deutscher bin, und stolz zu sein auf die Position, die unsre deutschen Arbeiter vor allen andern sich erkämpft.

I

Der deutsche Sozialismus datiert von lange vor 1848. Er wies anfangs zwei unabhängige Strömungen auf. Einerseits eine reine Arbeiterbewegung, Abzweigung des französischen Arbeiterkommunismus; aus ihr ging, als eine ihrer Entwicklungsstufen, der utopische Kommunismus Weitlings hervor. Dann eine theoretische Bewegung, entsprungen aus dem Zerfall der Hegelschen Philosophie; diese Richtung wird gleich von vornherein beherrscht durch den Namen Marx. Das »Kommunistische Manifest« vom Januar 1848 bezeichnet die Verschmelzung beider Strömungen, eine Verschmelzung, vollendet und besiegelt im Glutofen der Revolution, wo sie alle, Arbeiter wie Ex-Philosophen, ihren Mann redlich gestanden haben.

Nach der Niederlage der europäischen Revolution 1849 mußte der Sozialismus in Deutschland sich auf eine geheime Existenz beschränken. Erst 1862 pflanzte Lassalle, ein Schüler von Marx, von neuem die sozialistische Fahne auf. Aber das war nicht mehr der kühne Sozialismus des »Manifests«; was Lassalle im Interesse der Arbeiterklasse forderte, das war die Errichtung von Kooperativ-Produktionsgenossenschaften vermittelst des Staatskredits – eine Neuauflage des Programms der Pariser Arbeiterfraktion, die vor 1848 dem rein republikanischen »National« von Marrast anhing, also eines Programms, das die reinen Republikaner der »Organisation der Arbeit« von Louis Blanc entgegenstellten. Der lassallesche Sozialismus, wie man sieht, war sehr bescheiden. Und dennoch bezeichnet er den Ausgangspunkt der zweiten Entwicklungsstufe des Sozialismus in Deutschland. Denn es gelang dem Talent, dem Feuereifer, der unbezähnbaren Energie Lassalles, eine Arbeiterbewegung ins Leben zu rufen, an welche sich durch positive oder negative, freundliche oder feindliche Bande alles knüpft, was während zehn Jahren das deutsche Proletariat Selbständiges getan hat.

In der Tat: Konnte der reine Lassalleanismus, wie er ging und stand, den sozialistischen Ansprüchen der Nation genügen, die das »Manifest« erzeugt hatte? Das war unmöglich. Und so entstand bald, dank vor allem den Bemühungen Liebknechts und Bebels, eine Arbeiterpartei, die die Prinzipien des 1848er »Manifests« offen proklamierte. Dann, 1867, drei Jahre nach Lassalles Tod, erschien »Das Kapital« von Marx, und vom Tag seines Erscheinens datiert der Verfall des spezifischen Lassalleanismus. Die Anschauungen des »Kapitals« wurden mehr und mehr Gemeingut aller deutschen Sozialisten, der Lassalleaner nicht minder als der andern. Mehr als einmal gingen ganze Gruppen Lassalleaner mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel zur neuen »Eisenacher« Partei über. Diese nahm fortwährend an Stärke zu, so daß es bald zu offnen Feindseligkeiten zwischen ihr und den Lassalleanern kam; und man schlug sich am heftigsten, selbst mit Knüppeln, grade in dem Augenblick, wo kein wirklicher Streitpunkt zwischen den Kämpf enden mehr vorlag, wo die Prinzipien, die Argumente und selbst die Kampfmittel der einen in allen wesentlichen Punkten zusammenfielen mit denen der andern.

Und das war grade der Augenblick, wo Abgeordnete beider Richtungen im Reichstag nebeneinander saßen und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns sich doppelt fühlbar machte. Gegenüber den Ordnungsparteien wurde die gegenseitige Befehdung der Sozialisten einfach lächerlich. Die Lage wurde gradezu unerträglich. Da, im Jahr 1875, vollzog sich die Verschmelzung. Und seitdem haben die ehemals feindlichen Brüder ununterbrochen eine einzige, innig vereinte Familie ausgemacht. Und wäre noch die geringste Aussicht gewesen, sie zu entzweien, so war Bismarck so freundlich, dem vorzubeugen, in dem er 1878 den deutschen Sozialismus rechtlos erklärte durch sein berüchtigtes Ausnahmegesetz. Die unparteiisch fallenden Hammerschläge der Verfolgung schmiedeten Eisenacher und Lassalleaner endgültig in eine einzige gleichartige Masse. Und heute veröffentlicht die Sozialdemokratische Partei mit der einen Hand eine amtliche Ausgabe der Werke Lassalles, während sie gleichzeitig mit der andern – und unter Beihilfe der alten Lassalleaner – die letzten Spuren des spezifischen Lassalleanismus aus ihrem Programm austilgt.

Soll ich noch im einzelnen die Wechselfälle, die Kämpfe, die Niederlagen, die Triumphe aufzählen, die unsre Partei in ihrem Lebenslauf durchgemacht? Als das allgemeine Stimmrecht ihr die Tür des Reichstags öffnete, war sie vertreten durch zwei Abgeordnete [Bebel und Liebknecht] und hunderttausend Wähler; heute zählt sie fünfunddreißig Abgeordnete und anderthalb Millionen Wähler, mehr Wähler als irgendeine andre Partei in den 90er Wahlen aufzuweisen hat. Elf Jahre Reichsacht und Belagerungszustand haben ihre Stärke vervierfacht und sie zur stärksten Partei Deutschlands gemacht. 1867 konnten die ordnungsparteilichen Abgeordneten ihre sozialistischen Kollegen noch für fremdartige Wesen ansehn, die aus einem andern Planeten herabgefallen; heute, ob's ihnen gefällt oder nicht, müssen sie in ihnen die Vertreter der Macht sehn, der die Zukunft gehört. Die Sozialdemokratische Partei, die einen Bismarck gestürzt, die nach elfjährigem Kampf das Sozialistengesetz gebrochen, die Partei, die wie die ansteigende Flut alle Dämme überbraust, die sich über Stadt und Land ergießt, bis in die reaktionärsten Ackerbaudistrikte, diese Partei steht heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt.

Die Zahl der sozialistischen Stimmen war:

1871 101.927   1884 549.990
1874 351.671   1887 493.447
1877 493.447   1890 1.427.298

Nun hat die Regierung seit den letzten Wahlen ihr Menschenmögliches getan, um die Volksmassen dem Sozialismus zuzutreiben: Sie hat die Fachvereine und die Streiks verfolgt, sie hat, selbst unter der jetzigen Teuerung, die Zölle aufrechterhalten, durch die das Brot und das Fleisch des Armen zum Vorteil der großen Grundbesitzer verteuert wird. Bei den Wahlen von 1895 dürfen wir also auf mindestens 2½ Millionen Stimmen rechnen; diese aber würden um 1900 sich auf 3½ bis 4 Millionen steigern. Ein angenehmer »Jahrhundertschluß« für unsre Bourgeois!

Dieser kompakten und stets anschwellenden Masse von Sozialdemokraten gegenüber sehn wir nur gespaltene bürgerliche Parteien. 1890 hatten die Konservativen (beide Fraktionen zusammen) 1.377.417 Stimmen; die Nationalliberalen 1.177.807; die Deutschfreisinnigen 1.159.915; das Zentrum 1.342.113. Und das bedeutet eine Lage, wo eine solide Partei, die über 2½ Millionen Stimmen verfügt, jede Regierung zur Kapitulation bringen kann.

Die Hauptstärke der deutschen Sozialdemokratie liegt aber keineswegs in der Zahl ihrer Wähler. Bei uns wird man Wähler erst mit 25 Jahren, aber schon mit 20 Soldat. Und da grade die junge Generation es ist, die unsrer Partei ihre zahlreichsten Rekruten liefert, so folgt daraus, daß die deutsche Armee mehr und mehr vom Sozialismus angesteckt wird. Heute haben wir einen Soldaten auf fünf, in wenig Jahren werden wir einen auf drei haben, und gegen 1900 wird die Armee, früher das preußischste Element des Landes, in ihrer Majorität sozialistisch sein. Das rückt heran, unaufhaltsam wie ein Schicksalsschluß. Die Berliner Regierung sieht es kommen, ebensogut wie wir, aber sie ist ohnmächtig. Die Armee entschlüpft ihr.

Wie oft haben die Bourgeois uns nicht zugemutet, wir sollten unter allen Umständen auf den Gebrauch revolutionärer Mittel verzichten und innerhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben, jetzt, da das Ausnahmsgesetz gefallen, das gemeine Recht wiederhergestellt ist für alle, auch für die Sozialisten! Leider sind wir nicht in der Lage, den Herren Bourgeois diesen Gefallen zu tun. Was aber nicht verhindert, daß in diesem Augenblick nicht wir diejenigen sind, die »die Gesetzlichkeit kaputtmacht«. Im Gegenteil, sie arbeitet so vortrefflich für uns, daß wir Narren wären, verletzten wir sie, solange dies so vorangeht. Viel näher liegt die Frage, ob es nicht grade die Bourgeois und ihre Regierung sind, die Gesetz und Recht verletzen werden, um uns durch die Gewalt zu zermalmen? Wir werden das abwarten. Inzwischen: »Schießen Sie gefälligst zuerst, meine Herren« Bourgeois!

Kein Zweifel, sie werden zuerst schießen. Eines schönen Morgens werden die deutschen Bourgeois und ihre Regierung müde werden, der alles überströmenden Springflut des Sozialismus mit verschränkten Armen zuzuschauen; sie werden Zuflucht suchen bei der Ungesetzlichkeit, der Gewalttat. Was wird's nützen? Die Gewalt kann eine kleine Sekte auf einem beschränkten Gebiet erdrücken; aber die Macht soll noch entdeckt werden, die eine über ein ganzes großes Reich ausgebreitete Partei von über zwei oder drei Millionen Menschen auszurotten imstande ist. Die kontrerevolutionäre, momentane Übermacht kann den Triumph des Sozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur, damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird.

II

Das vorhin Gesagte gilt nur unter dem Vorbehalt, daß es Deutschland vergönnt wird, seine ökonomische und politische Entwicklung in Frieden zu verfolgen. Ein Krieg würde das alles ändern. Und der Krieg kann von heute auf morgen losbrechen.

Und was »der Krieg« heutzutage bedeutet, das weiß jedermann. Das will sagen: Frankreich und Rußland hier, gegen Deutschland, Österreich, vielleicht Italien dort. Die Sozialisten aller dieser Länder, wider Willen eingestellt, müßten sich gegeneinander schlagen: Was würde in solchem Fall die deutsche Sozialdemokratische Partei tun, was würde aus ihr werden?

Das Deutsche Reich ist eine Monarchie mit halbfeudalen Formen, die aber in letzter Reihe bestimmt wird durch die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie. Diese Monarchie hat – dank Bismarck – ungeheure Fehler begangen. Ihre polizistische, kleinliche, auf Plackereien ausgehende, einer großen Nation unwürdige innere Politik hat ihr die Verachtung aller bürgerlich-liberalen Länder eingebracht; ihre auswärtige Politik das Mißtrauen, ja den Haß der Nachbarvölker. Durch die gewaltsame Annexion von Elsaß-Lothringen hat die deutsche Regierung jede Versöhnung mit Frankreich auf lange Jahre hinaus unmöglich und, ohne für sich selbst einen wirklichen Vorteil einzuheimsen, Rußland zum Schiedsrichter von Europa gemacht. Das ist so augenfällig, daß gleich am Tage nach Sedan der Generalrat der Internationale die heutige europäische Situation hat vorhersagen können. In seiner Adresse vom 9. September 1870 heißt es: »Bilden sich denn die teutonischen Patrioten wirklich ein, sie würden den Frieden und die Freiheit sicherstellen, indem sie Frankreich in die Arme Rußlands treiben? Wenn Deutschland, fortgerissen durch den Erfolg der Waffen, durch den Übermut des Siegs, durch dynastische Intrige einen Gebietsraub an Frankreich begeht, dann von zweien Dingen eins: Entweder muß es sich zum offenkundigen Werkzeug russischer Eroberungspolitik hergeben, oder es steht ihm ein neuer ›Verteidigungskrieg‹ bevor – kein Krieg wie die neumodischen ›lokalisierten‹ Kriege, sondern ein Racenkrieg, ein Krieg gegen die vereinten Slawen und Romanen.«

Kein Zweifel: gegenüber diesem Deutschen Reich vertritt auch die heutige französische Republik die Revolution – allerdings nur die bürgerliche Revolution, aber immerhin die Revolution. Sowie aber diese Republik sich unter die Befehle des russischen Zaren stellt, ist das anders. Der russische Zarismus, das ist der Feind aller westlichen Völker, selbst der Bourgeois dieser Völker. Kämen die zarischen Horden nach Deutschland, sie brächten nicht die Freiheit, sondern die Knechtschaft, nicht die Entwicklung, sondern die Verwüstung, nicht den Fortschritt, sondern die Verrohung. Arm in Arm mit dem Zaren kann Frankreich den Deutschen nicht die geringste freiheitliche Idee bringen; der französische General, der von deutscher Republik spräche, würde von ganz Europa und Amerika ausgelacht. Frankreich würde seine ganze revolutionäre Geschichtsrolle verleugnen und dem Bismarckschen Kaiserreich erlauben, sich als Vertreter des westlichen Fortschritts aufzuspielen gegenüber orientalischer Barbarei.

Nun aber steht hinter dem offiziellen Deutschland das sozialistische Deutschland, die Partei, der die Zukunft, die nahe Zukunft des Landes gehört. Sobald diese Partei an die Herrschaft kommt, kann sie diese weder ausüben noch festhalten, ohne die Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen, die ihre Amts Vorgänger gegen andre Nationen begangen. Sie wird die Wiederherstellung des heute so schnöde von der französischen Bourgeoisie verratenen Polens vorbereiten, sie wird Nordschleswig und Elsaß-Lothringen in die Lage versetzen müssen, frei über ihre politische Zukunft zu entscheiden. Alle diese Fragen lösen sich also leicht und in naher Zukunft, vorausgesetzt nur, daß Deutschland sich selbst überlassen bleibt. Zwischen einem sozialistischen Frankreich und einem sozialistischen Deutschland kann keine elsaß-lothringische Frage aufkommen, der Fall ist im Handumdrehen erledigt. Nur handelt es sich darum, etwa zehn Jahre länger zu warten. In Frankreich, England, Deutschland wartet das gesamte Proletariat noch auf seine Befreiung; sollten die elsaß-lothringischen Patrioten nicht auch etwas warten können? Soll wegen ihrer Ungeduld ein ganzer Kontinent verwüstet und schließlich der zarischen Knute ausgeliefert werden? Ist das Spiel solchen Einsatz wert?

Kommt es zum Krieg, so wird zunächst Deutschland, sodann auch Frankreich Hauptschauplatz sein, diese beiden Länder werden vor allen anderen die Kriegskosten und Verwüstungen zu tragen haben. Und dazu wird dieser Krieg, gleich von Anfang, sich auszeichnen durch eine Reihe gegenseitiger Verrätereien unter Verbündeten, wie selbst die Erzverräterin, die Diplomatie, dergleichen bisher noch nicht aufweisen konnte; und die Hauptopfer dieser Verrätereien werden wiederum sein Frankreich oder Deutschland – oder alle beide. Keins dieser beiden Länder wird, angesichts solcher Aussichten, den offnen Kampf provozieren. Rußland dagegen, durch seine geographische und ökonomische Lage gedeckt gegen die vernichtendsten Folgen einer Reihe von Niederlagen, Rußland, das offizielle Rußland allein kann bei einem so furchtbaren Krieg sein Interesse finden und direkt darauf hinarbeiten. Aber in jedem Fall, wie die politischen Dinge heute liegen, ist zehn gegen eins zu wetten, daß beim ersten Kanonenschuß an der Weichsel die französischen Armeen an den Rhein marschieren.

Und dann kämpft Deutschland einfach um seine Existenz. Siegt es, so findet es nirgends Annexionsstoff vor; im Westen wie im Osten trifft es nur auf fremdsprachige Provinzen, und deren hat es schon mehr als genug. Wird es besiegt, zermalmt zwischen dem französischen Hammer und dem russischen Amboß, so verliert es an Rußland Altpreußen und die polnischen Provinzen, an Dänemark ganz Schleswig, an Frankreich das ganze linke Rheinufer. Selbst wenn Frankreich diese Eroberung zurückwiese, Rußland würde sie ihm aufzwingen. Denn Rußland braucht vor allem einen ewigen Zankapfel, einen Grund unaufhörlicher Entzweiung zwischen Frankreich und Deutschland. Versöhnt diese beiden großen Länder, und es ist aus mit der russischen Vorherrschaft in Europa. Ein so zerstückeltes Deutschland wäre aber außerstande, die ihm in der europäischen geschichtlichen Entwicklung zukommende Rolle durchzuführen. Herabgedrückt auf den Stand, den ihm Napoleon nach Tilsit aufzwang, könnte es sich am Leben erhalten nur in der Vorbereitung eines neuen Kriegs zur Wiederherstellung seiner nationalen Lebensbedingungen. Inzwischen aber bliebe es das gefügige Werkzeug des Zaren [Alexander III.], der nicht ermangeln würde, sich seiner zu bedienen gegen Frankreich.

Was würde unter solchen Umständen aus der deutschen Sozialdemokratischen Partei? Soviel ist sicher: Weder der Zar noch die französischen Bourgeoisrepublikaner, noch die deutsche Regierung selbst würden eine so schöne Gelegenheit vorübergehen lassen zur Erdrückung der einzigen Partei, die für sie alle drei »der Feind« ist. Man hat gesehn, wie Thiers und Bismarck sich die Hände gereicht haben über den Ruinen des Paris der Kommune; wir würden dann erleben, wie der Zar, Constans und Caprivi – oder ihre beliebigen Nachfolger – sich in die Arme sinken über der Leiche des deutschen Sozialismus.

Nun aber hat die deutsche Sozialdemokratische Partei, dank den ununterbrochnen Kämpfen und Opfern von dreißig Jahren, eine Stellung erobert wie keine andere sozialistische Partei der Welt, eine Stellung, die ihr binnen kurzer Frist den Heimfall der politischen Macht sichert. Das sozialistische Deutschland nimmt in der internationalen Arbeiterbewegung den vordersten, den ehrenvollsten, den verantwortlichsten Posten ein; es hat die Pflicht, diesen Posten gegen jeden Angreifer bis auf den letzten Mann zu behaupten.

Wenn aber der Sieg der Russen über Deutschland die Erdrückung des deutschen Sozialismus bedeutet, was wird dann, gegenüber einer solchen Aussicht, die Pflicht der deutschen Sozialisten sein ? Sollen sie die Ereignisse passiv über sich ergehen lassen, die ihnen Vernichtung drohn, sollen sie widerstandslos den Posten räumen, für den sie die Verantwortung übernommen haben vor dem Proletariat der ganzen Welt?

Keineswegs. Im Interesse der europäischen Revolution sind sie verbunden, alle eroberten Stellungen zu behaupten, nicht zu kapitulieren, ebensowenig vor dem äußern wie vor dem innern Feind. Und das können sie nur, indem sie bis aufs äußerste Rußland bekämpfen und alle seine Bundesgenossen, wer sie auch seien. Sollte die französische Republik sich in den Dienst Seiner Majestät des Zaren und Selbstherrschers aller Reußen stellen, so würden die deutschen Sozialisten sie mit Leidwesen bekämpfen, aber bekämpfen würden sie sie. Gegenüber dem deutschen Kaisertum kann die französische Republik möglicherweise die bürgerliche Revolution repräsentieren. Aber gegenüber der Republik eines Constans, eines Rouvier und selbst eines Clemenceau, besonders aber gegenüber der Republik im Dienste des russischen Zaren repräsentiert der deutsche Sozialismus unbedingt die proletarische Revolution.

Ein Krieg, wo Russen und Franzosen in Deutschland einbrächen, wäre für dieses ein Kampf auf Tod und Leben, worin es seine nationale Existenz nur sichern könnte durch Anwendung der revolutionärsten Maßregeln. Die jetzige Regierung, falls sie nicht gezwungen wird, entfesselt die Revolution sicher nicht. Aber wir haben eine starke Partei, die sie dazu zwingen oder im Notfall sie ersetzen kann, die Sozialdemokratische Partei.

Und wir haben das großartige Beispiel nicht vergessen, das Frankreich uns 1793 gab. Das hundertjährige Jubiläum von 1793 naht heran. Sollte der Eroberungsdurst des Zaren und die chauvinistische Ungeduld der französischen Bourgeoisie den siegreichen, aber friedlichen Vormarsch der deutschen Sozialisten aufhalten, so sind diese – verlaßt euch darauf – bereit, der Welt zu beweisen, daß die deutschen Proletarier von heute der französischen Sansculotten von vor hundert Jahren nicht unwürdig sind und daß 1893 sich sehen lassen kann neben 1793. Und wenn dann die Soldaten des Herrn Constans den Fuß auf deutsches Gebiet setzen, wird man sie begrüßen mit den Worten der Marseillaise:

Quoi, ces cohortes étrangères

Feraient la loi dans nos foyers!

Wie, soll dies fremde Heer uns schnöde

Gewalt antun am eignen Herd?

Kurz und gut: Der Friede sichert den Sieg der deutschen Sozialdemokratischen Partei in ungefähr zehn Jahren. Der Krieg bringt ihr entweder den Sieg in zwei bis drei Jahren oder vollständigen Ruin, wenigstens auf fünfzehn bis zwanzig Jahre. Demgegenüber müßten die deutschen Sozialisten toll sein, wünschten sie den Krieg, bei dem sie alles auf eine Karte setzen, statt den sichern Triumph des Friedens abzuwarten. Noch mehr. Kein Sozialist, von welcher Nationalität auch immer, kann den kriegerischen Triumph weder der heutigen deutschen Regierung wünschen noch den der französischen bürgerlichen Republik, am allerwenigsten den des Zaren, der eins wäre mit der Unterjochung Europas. Und deshalb sind die Sozialisten in allen Ländern für den Frieden. Kommt aber der Krieg dennoch, dann ist nur eins sicher: Dieser Krieg, wo fünfzehn bis zwanzig Millionen Bewaffneter sich untereinander abschlachten und ganz Europa verwüsten würden wie nie vorher – dieser Krieg muß entweder den sofortigen Sieg des Sozialismus bringen oder aber die alte Ordnung der Dinge derart von Kopf zu Fuß umstürzen und einen solchen Trümmerhaufen hinterlassen, daß die alte kapitalistische Gesellschaft unmöglicher würde als je und daß die soziale Revolution zwar um zehn oder fünfzehn Jahre hinausgeschoben würde, dann aber auch siegen müßte nach um so rascherem und grundlicherem Verlauf.

Soweit der Artikel aus dem französischen Arbeiterkalender. Er wurde geschrieben im Spätsommer, als noch der Champagnerrausch von Kronstadt die Köpfe der französischen Bourgeoisie erhitzt hielt und die großen Manöver auf dem 1814er Schlachtengebiet zwischen Seine und Marne die patriotische Begeisterung auf die Spitze gebracht. Damals war Frankreich – das Frankreich, das seinen Ausdruck in der großen Presse und der Kammermajorität findet – in der Tat reif für ziemlich ungemeßne Dummheiten im Dienst Rußlands, und der Kriegsfall rückte, als Möglichkeit, in den Vordergrund. Und damit, wenn er sich verwirklichte, kein Mißverständnis im letzten Augenblick zwischen die französischen und die deutschen Sozialisten trete, hielt ich es für nötig, den ersteren klarzumachen, welches nach meiner Überzeugung die notwendige Haltung der letzteren sein würde gegenüber einem solchen Krieg.

Da aber wurde dem russischen Kriegsschürer ein kräftiger Dämpfer aufgesetzt. Die Mißernte zu Hause, die eine Hungersnot erwarten ließ, wurde zuerst bekannt. Dann kam der Mißerfolg der Pariser Anleihe, die den endgültigen Zusammenbruch des russischen Staatskredits bedeutet. Die vierhundert Millionen Mark wurden, hieß es, vielmals überzeichnet; als aber die Pariser Bankiers die Schuldscheine dem Publikum anhängen wollten, schlugen alle Versuche fehl; die Herren Zeichner mußten ihre guten Wertpapiere losschlagen, um auf diese schlechten einzahlen zu können, und zwar in solchem Maß, daß die übrigen großen Börsen Europas durch diese Massenverkäufe mit herabgedrückt wurden; die neuen »Russen« sanken mehrere Prozent unter den Emissionspreis – kurzum, es entstand eine solche Krise, daß die russische Regierung hundertsechzig Millionen Schuldscheine zurücknehmen mußte und nur für zweihundertvierzig statt für vierhundert Millionen Deckung erhielt. Damit fiel denn auch die schon fröhlich in die Welt hinausgekrähte Ankündigung eines weitern russischen Pumpversuchs – diesmal volle achthundert Millionen Mark – jämmerlich ins Wasser. Und damit zeigte sich auch, daß das französische Kapital absolut keinen »Patriotismus« hat, wohl aber – wie es auch in der Presse schwadronieren lassen mag – eine heilsame Angst vor dem Krieg.

Seitdem hat sich die Mißernte wirklich zu einer Hungersnot entwickelt, und zwar zu einer solchen, wie wir sie in Westeuropa auf diesem Maßstab seit langem nicht mehr kennen, wie sie selbst in Indien, dem typischen Land für diese Kalamitäten, nicht oft vorkommt, ja, wie sie im heiligen Rußland in frühern Zeiten, wo es noch keine Eisenbahnen gab, schwerlich je diese Höhe erreicht hat. Woher kommt das? Wie das erklären?

Sehr einfach. Die russische Hungersnot ist nicht das Resultat einer bloßen Mißernte, sie ist ein Stück aus der ungeheuren gesellschaftlichen Revolution, die Rußland seit dem Krimkrieg durchmacht; sie ist nur die durch diese Mißernte bewirkte Verwandlung der mit dieser Revolution verknüpften chronischen Leiden in akute.

Das alte Rußland ging unwiederbringlich zu Grabe an dem Tag, wo der Zar Nikolaus, an sich und an Altrußland verzweifelnd, Gift nahm. Auf seinen Ruinen baut sich auf das Rußland der Bourgeoisie.

Die Anfänge einer Bourgeoisie waren schon damals vorhanden. Teils Bankiers und Importkaufleute – meist Deutsche und Deutschrussen oder deren Abkömmlinge –, teils im Binnenhandel emporgekommne Russen, namentlich aber auf Kosten des Staats und des Volks reich gewordne Schnapspächter und Armeelieferanten, dazu auch schon einige Fabrikanten. Von nun an wurde diese Bourgeoisie, namentlich die industrielle, förmlich gezüchtet durch massenhafte Staatshülfe, durch Subventionen, Prämien und allmählich bis aufs Äußerste gesteigerte Schutzzölle. Das unermeßliche russische Reich sollte ein sich selbst genügendes Produktionsgebiet werden, das der Einfuhr von außen ganz oder fast ganz entraten könne. Und damit nicht nur der innere Markt stets wachse, sondern auch Produkte wärmerer Zonen im Innern des Landes selbst hervorgebracht würden, deshalb das fortwährende Streben nach Eroberungen auf der Balkanhalbinsel und in Asien, mit Konstantinopel hier, mit Britisch-Indien dort als letztem Ziel. Dies ist das Geheimnis, dies die ökonomische Grundlage des unter der russischen Bourgeoisie so stark grassierenden Ausdehnungsdrangs, dessen nach Südwesten strebende Richtung man Panslawismus nennt.

Mit solchen industriellen Plänen war aber die Leibeigenschaft der Bauern absolut unverträglich. Sie fiel 1861. Aber wie! Die preußische, von 1810 bis 1851 immer langsam voran durchgeführte Beseitigung der Hörigkeit und Frondienste wurde als Vorbild genommen; aber in ein paar Jahren sollte alles erledigt sein. Die Folge war, daß, um den Widerstand der Großgrund- und »Seelen«besitzer zu brechen, ihnen noch ganz andere Konzessionen gemacht werden mußten als die, die der preußische Staat und seine bestochnen Beamten ihrerzeit den gnädigen Gutsherren bewilligt. Und was Bestechlichkeit angeht, so war der preußische Bürokrat immer noch ein unschuldiges Kindlein gegen den russischen Tschinownik. So kam es, daß bei der Landteilung der Adel den Löwenanteil, und in der Regel das durch die Arbeit vieler Generationen von Bauern fruchtbar gemachte Land, die Bauern aber nur den allernotwendigsten Anteil und auch diesen meist in schlechtem Ödland zugewiesen erhielten. Gemeinwald und Gemeinweide fiel dem Grundherrn zu; wollte der Bauer sie benutzen – und ohne sie konnte er nicht bestehn – so mußte er dem Grundherrn dafür zahlen.

Damit aber beide, Grundadel wie Bauern, so rasch wie möglich ruiniert würden, erhielt der Adel die kapitalisierte Ablösungssumme in Staatsschuldscheinen von der Regierung auf einmal, während die Bauern sie in langjährigen Raten abzahlen sollten. Wie nicht anders zu erwarten, verjubelte der Adel größtenteils das erhaltne Geld unverzüglich, während der Bauer durch die für seine Lage enorm gesteigerte Geldzahlung plötzlich hinausgeschleudert wurde aus der Naturalwirtschaft in die Geldwirtschaft.

Der russische Bauer, der früher außer relativ geringen Steuern kaum Geldzahlungen zu machen hatte, soll nun von dem verringerten und verschlechterten Grundstück, das ihm zugewiesen, und nach Abschaffung des freien Holzes und der freien Weide vom Gemeindeland nicht nur leben, ein Arbeitsvieh überwintern und sein Grundstück verbessern, sondern noch erhöhte Steuern und dazu die jährliche Ablösungsrate zahlen, und zwar in barem Gelde. Damit war er in eine Lage versetzt, worin er nicht leben und nicht sterben kann. Dazu kam noch die Konkurrenz der neuerstandnen Großindustrie, die ihm den Markt für seine Hausindustrie entzog – Hausindustrie war Hauptgeldquelle für zahllose russische Bauern – oder, wo dies noch nicht ganz der Fall, diese Hausindustrie der Gnade des Kaufmanns, d.h. des Mittelsmanns, des sächsischen Verlegers oder englischen sweaters, überantwortete, die hausindustriellen Bauern also direkt zum Sklaven des Kapitals machte. Kurz, wer da wissen will, wie dem russischen Bauern in den letzten dreißig Jahren mitgespielt wurde, der braucht nur im ersten Band von Marx' »Kapital« das Kapitel nachzulesen von der »Herstellung des innern Markts« (Kap. 24, Sektion 5).

Die Verwüstungen, die der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, dies Hauptmittel zur Herstellung des innern Markts für das industrielle Kapital, unter den Bauern anrichtet, sind in klassischer Weise dargelegt von Boisguillebert und Vauban am Beispiel Frankreichs unter Ludwig XIV. Aber was damals geschah, ist ein Kinderspiel gegen das, was sich in Rußland vollzieht. Erstens ist der Maßstab drei- bis viermal so groß, und zweitens ist die Umwälzung der Produktionsbedingungen, in deren Dienst dieser Übergang den Bauern aufgezwungen wird, unendlich einschneidender. Der französische Bauer wurde langsam hineingezogen in den Bereich der Manufaktur, der russische gerät über Nacht in den Wirbelsturm der großen Industrie. Wenn die Manufaktur Bauern fällte mit der Steinschloßflinte, so besorgt die große Industrie dies Geschäft mit dem Repetiergewehr.

Das war die Lage, als die Mißernte von 1891 mit einem Schlag die ganze, im stillen seit Jahren vorgegangne, aber dem europäischen Philister unsichtbar gebliebne Umwälzung und ihre Folgen aufdeckte. Diese Lage war eben so, daß die erste Mißernte eine nationale Krisis werden mußte. Und eine Krisis ist da, die auf Jahre hinaus nicht überwunden wird. Vor einer solchen Hungersnot ist jede Regierung ohnmächtig, am meisten aber die russische, die sich ihre Beamten expreß auf den Diebstahl dressiert. Die altkommunistischen Sitten und Einrichtungen der russischen Bauern sind seit 1861 teils durch die ökonomische Entwicklung untergraben, teils durch die Regierung systematisch vernichtet. Die alte kommunistische Gemeinde ist zerfallen oder doch im Zerfall, aber in dem Augenblick, wo der einzelne Bauer auf seine eignen Füße gestellt wird, in demselben Augenblick zieht man ihm den Boden unter den Füßen weg. Was Wunder, daß die Wintersaat im vorigen Herbst in den wenigsten Distrikten bestellt wurde? Und wo sie bestellt, hat das Wetter sie meist ruiniert. Was Wunder, daß das Hauptinstrument des Bauern, das Arbeitsvieh, erst selbst nichts zu essen hatte und aus diesem unwiderleglichen Grund sodann vom Bauern selbst aufgegessen wurde? Was Wunder, daß der Bauer Haus und Hof verläßt und in die Städte flüchtet, wo er Arbeit vergebens sucht, aber um so sicherer den Hungertyphus hinbringt?

Mit einem Wort: Hier haben wir keine einmalige Hungersnot vor uns, sondern eine durch jahrelange, stille, ökonomische Revolution vorbereitete und durch Mißernte nur akut gemachte gewaltige Krisis. Diese akute Krisis aber nimmt ihrerseits wieder chronische Form an und droht jahrelang anzuhalten. Ökonomisch beschleunigt sie die Auflösung der altkommunistischen Bauerngemeinde, die Bereicherung und Verwandlung in Großgrundbesitzer, der Dorfwucherer (Kulaki), überhaupt den Übergang des Adels- und Bauerngrundbesitzes in die Hände der neuen Bourgeoisie.

Für Europa bedeutet sie einstweilen den Frieden. Die russische Kriegshetzerei ist auf eine Reihe von Jahren lahmgelegt. Statt daß Millionen von Soldaten auf den Schlachtfeldern fallen, sterben Millionen russischer Bauern den Hungertod. Was aber dabei für den russischen Despotismus herauskommt, das wollen wir abwarten.

erschienen in: »Die Neue Zeit«, 10. Jahrgang (1891/92), Nr. 19

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