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Engels ~ Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft


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FRIEDRICH ENGELS

Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft

Nach dem Text der deutschen Ausgabe von 1891, sämtliche Vorreden und die Anmerkungen des Autors enthaltend.

[Vorbemerkung zur französischen Ausgabe von 1880]

Die Seiten, die den Inhalt der vorliegenden Broschüre umfassen, wurden zuerst in drei Artikeln in der »Revue socialiste« veröffentlicht als Übersetzung aus Friedrich Engels' neuester Arbeit »Die Umwälzung der Wissenschaft«. Sie sind vom Verfasser durchgesehen, der im dritten Teil verschiedene Zusätze gemacht hat, um dem französischen Leser die dialektische Entwicklung der ökonomischen Kräfte der kapitalistischen Produktion verständlich zu machen.

Friedrich Engels, einer der hervorragendsten Vertreter des modernen Sozialismus, wurde 1844 durch seine »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« bekannt, die zuerst in den von Marx und Rüge in Paris herausgegebenen »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« erschienen. In den »Umrissen« sind bereits einige allgemeine Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus formuliert. In Manchester, wo Engels dann lebte, schrieb er (in deutscher Sprache) »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845), ein bedeutendes Werk, das Marx im »Kapital« gebührend würdigte. Während seines ersten Aufenthalts in England – wie auch später in Brüssel – war er Mitarbeiter an dem »Northern Star«, dem offiziellen Organ der sozialistischen Bewegung, und an der »New Moral World« von Robert Owen.

Während seines Aufenthalts in Brüssel gründeten er und Marx den kommunistischen Deutschen Arbeiterverein, der mit den flämischen und wallonischen Arbeiterklubs in Verbindung stand; und beide gaben gemeinsam mit Bornstedt die »Deutsche-Brüsseler-Zeitung« heraus. Auf Einladung des deutschen Komitees des Bundes der Gerechten (in London) wurden sie Mitglieder dieses Bundes, den Karl Schapper gegründet hatte, nachdem er als Teilnehmer an der Verschwörung Blanquis 1839 aus Frankreich geflohen war. Nachdem die in Geheimbünden üblichen Formen beseitigt worden waren, wurde der Bund in den internationalen Bund der Kommunisten umgebildet. Nichtsdestoweniger mußte der Bund unter den gegebenen Umständen vor den Regierungen geheimgehalten werden. 1847 wurden Marx und Engels auf dem internationalen Kongreß des Bundes in London beauftragt, das »Manifest der Kommunistischen Partei« abzufassen, das unmittelbar vor der Februarrevolution veröffentlicht und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde. »Das Kommunistische Manifest« ist eines der wertvollsten Dokumente des modernen Sozialismus. Es bleibt auch heute noch eine der stärksten und klarsten Darlegungen von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Herausbildung des Proletariats, das der kapitalistischen Gesellschaft ein Ende machen muß; hier, wie auch in »Misère de la philosophie« von Marx, ein Jahr zuvor veröffentlicht, findet man zum erstenmal die Theorie des Klassenkampfs klar formuliert. Im gleichen Jahr wirkten sie mit an der Gründung der Brüsseler Demokratischen Gesellschaft, einer öffentlichen und internationalen Vereinigung, in der Vertreter der bürgerlichen Radikalen und der sozialistischen Arbeiter zusammentrafen.

Nach der Februarrevolution wurde Engels einer der Redakteure der »Neuen Rheinischen Zeitung«, die 1848 von Marx in Köln gegründet und im Mai 1849 durch einen preußischen coup d'état unterdrückt wurde. Nachdem Engels an dem Elberfelder Aufstand teilgenommen hatte, machte er die Badener Kampagne gegen die Preußen (Juni und Juli 1849) als Adjutant Willichs mit, der damals Oberst eines Bataillons Freischärler war.

In London war er 1850 Mitarbeiter der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue«, die von Marx herausgegeben und in Hamburg gedruckt wurde. In ihr veröffentlichte Engels zum erstenmal die Arbeit »Der deutsche Bauernkrieg«, die 19 Jahre später in Leipzig als Broschüre erschien und drei Ausgaben erlebte.

Nach dem Wiederaufkommen der sozialistischen Bewegung in Deutschland schrieb Engels die bedeutendsten der im »Volksstaat« und im »Vorwärts« veröffentlichten Artikel, von denen die meisten als Flugschriften nachgedruckt worden sind, wie »Soziales aus Rußland«, »Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag«, »Zur Wohnungsfrage«, »Die Bakunisten an der Arbeit« etc.

Nachdem Engels 1870 von Manchester nach London gezogen war, wurde er Mitglied des Generalrats der Internationale, von dem er mit der Korrespondenz für Spanien, Portugal und Italien beauftragt war.

Die jüngste Artikelreihe, die er ironisch »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« betitelte (in Erwiderung auf die angeblich neuen Theorien von Herrn Eugen Dühring über die Wissenschaft im allgemeinen und den Sozialismus im besonderen), sandte er an den »Vorwärts«. Diese Reihe wurde zu einem Band vereinigt und hatte bei den deutschen Sozialisten großen Erfolg. Wir bringen in der vorliegenden Broschüre die treffendsten Auszüge aus dem theoretischen Teil dieses Buchs, die gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus bilden.

[Karl Marx]   Paul Lafargue

Vorwort zur ersten Auflage [der deutschen Ausgabe (1882)]

Die nachfolgende Schrift ist entstanden aus drei Kapiteln meiner Arbeit: »Herrn E. Dührings Umwälzung der Wissenschaft«, Leipzig 1878. Ich stellte sie für meinen Freund Paul Lafargue zusammen zur Übersetzung ins Französische und fügte einige weitre Ausführungen hinzu. Die von mir durchgesehene französische Übersetzung erschien zuerst in der »Revue socialiste« und sodann selbständig unter dem Titel: »Socialisme utopique et socialisme scientifique«, Paris 1880. Eine nach der französischen Übersetzung ausgeführte Übertragung ins Polnische ist soeben in Genf erschienen und führt den Titel: »Socyjalizm utopijny a naukowy«. Imprimerie de l'Aurore, Genève 1882.

Der überraschende Erfolg der Lafargueschen Übersetzung in den Ländern französischer Zunge und namentlich in Frankreich selbst mußte mir die Frage aufdrängen, ob nicht eine deutsche Separatausgabe dieser drei Kapitel ebenfalls von Nutzen sein werde. Da teilte mir die Redaktion des Züricher »Sozialdemokrat« mit, daß innerhalb der deutschen sozialdemokratischen Partei allgemein das Verlangen nach Herausgabe neuer Propagandabroschüren erhoben werde, und frug mich, ob ich nicht jene drei Kapitel dazu bestimmen wolle. Ich war damit selbstredend einverstanden und stellte meine Arbeit zur Verfügung.

Aber sie war ursprünglich gar nicht für die unmittelbare Volkspropaganda geschrieben. Wie sollte eine zunächst rein wissenschaftliche Arbeit sich dazu eignen? Welche Änderungen in Form und Inhalt waren nötig?

Was die Form angeht, so konnten nur die vielen Fremdwörter Bedenken erregen. Aber schon Lassalle war in seinen Reden und Propagandaschriften durchaus nicht sparsam mit Fremdwörtern, und man hat sich meines Wissens nicht darüber beklagt. Seit jener Zeit haben unsre Arbeiter weit mehr und weit regelmäßiger Zeitungen gelesen und sind dadurch im selben Grad mehr mit Fremdwörtern vertraut worden. Ich habe mich darauf beschränkt, alle unnötigen Fremdwörter zu entfernen. Bei den unvermeidlichen habe ich auf Beifügung sogenannter erklärender Übersetzungen verzichtet. Die unvermeidlichen Fremdwörter, meist allgemein angenommene wissenschaftlich-technische Ausdrücke, wären eben nicht unvermeidlich, wenn sie übersetzbar wären. Die Übersetzung verfälscht also den Sinn; statt zu erklären, verwirrt sie. Mündliche Auskunft hilft da weit mehr.

Der Inhalt dagegen, glaube ich behaupten zu können, wird den deutschen Arbeitern wenig Schwierigkeiten machen. Schwierig ist überhaupt nur der dritte Abschnitt, aber den Arbeitern, deren allgemeine Lebensbedingungen er zusammenfaßt, weit weniger als den »gebildeten« Bourgeois. Bei den zahlreichen erläuternden Zusätzen, die ich hier gemacht, habe ich in der Tat weniger an die Arbeiter gedacht als an »gebildete« Leser; Leute etwa, wie der Herr Abgeordnete von Eynern, der Herr Geheimrat Heinrich von Sybel und andere Treitschkes, beherrscht von dem unwiderstehlichen Drang, ihre grauenhafte Unkenntnis und ihren daraus begreiflichen kolossalen Mißverstand des Sozialismus immer aufs neue schwarz auf weiß zum besten zu geben. Wenn Don Quijote seine Lanze gegen Windmühlen einlegt, so ist das seines Amtes und in seiner Rolle; dem Sancho Pansa aber können wir so etwas unmöglich erlauben.

Solche Leser werden sich auch wundern, in einer skizzierten Entwicklungsgeschichte des Sozialismus auf die Kant-Laplacesche Kosmogonie, auf die moderne Naturwissenschaft und Darwin, auf die klassische deutsche Philosophie und Hegel zu stoßen. Aber der wissenschaftliche Sozialismus ist nun einmal ein wesentlich deutsches Produkt und konnte nur bei der Nation entstehn, deren klassische Philosophie die Tradition der bewußten Dialektik lebendig erhalten hatte: in Deutschland [A] . Die materialistische Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragne Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugin für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit – wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.

London, 21. September 1882 Friedrich Engels

Vorwort zur vierten Auflage [der deutschen Ausgabe] (1891)

Meine Vermutung, daß der Inhalt dieser Schrift unsern deutschen Arbeitern wenig Schwierigkeiten machen werde, hat sich bestätigt. Wenigstens sind seit März 1883; wo die erste Auflage erschien, drei Auflagen von im ganzen 10.000 Exemplaren abgesetzt worden, und das unter der Herrschaft des verblichnen Sozialistengesetzes – zugleich ein neues Beispiel davon, wie ohnmächtig Polizeiverbote sind gegenüber einer Bewegung wie die des modernen Proletariats.

Seit der ersten Auflage sind noch verschiedne Übersetzungen in fremde Sprachen erschienen; eine italienische von Pasquale Martignetti: »Il Socialismo Utopico e il Socialismo scientifico«, Benevento 1883; eine russische: »Razvitie naucznago socializma«, Genf 1884; eine dänische: »Socialismens Udvikling fra Utopi til Videnskab«, in »Socialistisk Bibliotek«, I. Bind, Kjöbenhavn 1885; eine spanische: »Socialismo utópico y Socialismo cientifico«, Madrid 1886; und eine holländische: »De Ontwikkeling van het Socialisme van Utopie tot Wetenschap«, Haag 1886.

Die gegenwärtige Auflage hat verschiedne kleine Abänderungen erfahren; wichtigere Zusätze sind nur an zwei Stellen gemacht: im ersten Kapitel über Saint-Simon, der gegenüber Fourier und Owen doch etwas zu kurz kam, und gegen Ende des dritten über die inzwischen wichtig gewordne neue Produktionsform der »Trusts«.

London, 12. Mai 1891 Friedrich Engels

Einleitung [zur englischen Ausgabe von 1892]

Die vorliegende kleine Schrift ist ursprünglich Teil eines größern Ganzen. Um 1875 verkündete Dr. E. Dühring, Privatdozent an der Berliner Universität, plötzlich und ziemlich geräuschvoll seine Bekehrung zum Sozialismus und bescherte dem deutschen Publikum nicht allein eine umständliche sozialistische Theorie, sondern auch einen kompletten praktischen Plan zur Reorganisation der Gesellschaft. Es war eine Selbstverständlichkeit, daß er über seine Vorgänger herfiel; vor allem beehrte er Marx damit, daß er die volle Schale seines Grimms über ihn ausgoß.

Dies geschah um die Zeit, als die beiden Sektionen der Sozialistischen Partei in Deutschland – Eisenacher und Lassalleaner – eben ihre Verschmelzung vollzogen hatten und damit nicht nur einen immensen Kraftzuwachs. sondern, was mehr war, die Fähigkeit zum Einsatz dieser ganzen Kraft gegen den gemeinsamen Feind erhielten. Die Sozialistische Partei in Deutschland war im Begriff, rasch zu einer Macht zu werden. Sie aber zu einer Macht zu machen, dazu war die erste Bedingung, daß die neugewonnene Einheit nicht gefährdet wurde. Dr. Dühring nun schickte sich offen an, um seine Person herum eine Sekte, den Kern einer künftigen separaten Partei zu bilden. So wurde es notwendig, den uns hingeworfnen Fehdehandschuh aufzunehmen und den Strauß auszufechten, ob uns das nun behagen mochte oder nicht.

Nun war dies, wenn auch kein allzu schwieriges, so doch augenscheinlich ein langwieriges Geschäft. Wie man wohl weiß, besitzen wir Deutsche eine erschreckend gewichtige Gründlichkeit, einen fundamentalen Tiefsinn oder eine tiefsinnige Fundamentalität, wie man es immer nennen mag. Sooft einer von uns etwas darlegt, was er als eine neue Doktrin ansieht, hat er es zunächst zu einem allumfassenden System auszuarbeiten. Er hat zu beweisen, daß sowohl die ersten Prinzipien der Logik als auch die Grundgesetze des Universums von aller Ewigkeit her zu keinem andern Zweck existiert haben als dazu, in letzter Instanz zu dieser neuentdeckten, allem die Krone aufsetzenden Theorie hinzuleiten. Und Dr. Dühring war in dieser Hinsicht ganz nach dem nationalen Standard. Nicht weniger als ein komplettes »System der Philosophie«, der Geistes-, Moral-, Natur- und Geschichtsphilosophie; ein komplettes »System der politischen Ökonomie und des Sozialismus« und zum Schluß eine »Kritische Geschichte der politischen Ökonomie« – drei dicke Oktavbände, schwerfällig von außen und von innen, drei Armeekorps von Argumenten, ins Feld geführt gegen alle vorhergehenden Philosophen und Ökonomen im allgemeinen und gegen Marx im besondern – in der Tat, der Versuch einer kompletten »Umwälzung der Wissenschaft« – das war's, was ich aufs Korn nehmen sollte. Ich hatte alle nur möglichen Gegenstände zu behandeln; von den Begriffen der Zeit und des Raums bis zum Bimetallismus; von der Ewigkeit der Materie und der Bewegung bis zu der vergänglichen Natur der moralischen Ideen; von Darwins natürlicher Zuchtwahl bis zur Jugenderziehung in einer zukünftigen Gesellschaft. Immerhin gab mir die systematische Weitläufigkeit meines Opponenten Gelegenheit, in Opposition zu ihm und in einer zusammenhängenderen Form, als dies früher geschehn war, die von Marx und mir vertretnen Ansichten über diese große Mannigfaltigkeit von Gegenständen zu entwickeln. Und das war der Hauptgrund, der mich diese sonst undankbare Aufgabe in Angriff nehmen ließ.

Meine Antwort wurde zuerst veröffentlicht in einer Artikelreihe im Leipziger »Vorwärts«, Zentralorgan der Sozialistischen Partei, und später als Buch: »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«, von dem 1886 in Zürich eine zweite Auflage erschien.

Auf Ersuchen meines Freundes Paul Lafargue, gegenwärtig Vertreter von Lille in der französischen Deputiertenkammer, richtete ich drei Kapitel dieses Buchs als Broschüre ein, die er übersetzte und 1880 unter dem Titel »Socialisme utopique et socialisme scientifique« veröffentlichte. Nach diesem französischen Text wurden eine polnische und eine spanische Ausgabe veranstaltet. Im Jahre 1883 brachten unsre deutschen Freunde die Broschüre in der Originalsprache heraus. Seitdem sind auf Grund des deutschen Texts italienische, russische, dänische, holländische und rumänische Übersetzungen veröffentlicht worden. Zusammen mit der vorliegenden englischen Ausgabe ist diese kleine Schrift also in zehn Sprachen verbreitet. Ich wüßte nicht, daß irgendein andres sozialistisches Werk, nicht einmal unser »Kommunistisches Manifest« von 1848 oder Marx' »Kapital«, so viele Male übersetzt worden wäre. In Deutschland hat es vier Auflagen von insgesamt etwa 20.000 Exemplaren erlebt.

Der Anhang »Die Mark« wurde in der Absicht geschrieben, in der deutschen Sozialistischen Partei einige grundlegende Kenntnisse über die Geschichte und die Entwicklung des Grundeigentums in Deutschland zu verbreiten. Das schien besonders notwendig zu einer Zeit, da sich der Einfluß dieser Partei bereits auf annähernd die gesamte städtische Arbeiterschaft erstreckte und es galt, die Landarbeiter und die Bauern zu gewinnen. Dieser Anhang wurde in die Übersetzung einbezogen, da die ursprünglichen, allen germanischen Stämmen gemeinsamen Formen des Bodenbesitzes und die Geschichte ihres Verfalls in England noch weit weniger bekannt sind als in Deutschland. Ich habe den Originaltext unverändert gelassen, also nicht Bezug genommen auf die unlängst von Maxim Kowalewski aufgestellte Hypothese, der zufolge der Teilung des Acker- und Wiesenlandes unter die Mitglieder der Mark seine für gemeinsame Rechnung erfolgende Bestellung durch eine große patriarchalische Familiengemeinschaft vorausging, die mehrere Generationen umfaßte (wofür die noch heute bestehende südslawische Zadruga ein Beispiel ist), und die Teilung später erfolgte, als die Gemeinschaft so groß geworden war, daß sie für gemeinsamen Wirtschaftsbetrieb zu schwerfällig wurde. Kowalewski hat wahrscheinlich ganz recht, aber die Frage ist noch sub judice [nicht entschieden].

Die in diesem Buch verwendeten ökonomischen Ausdrücke stimmen, soweit sie neu sind, mit den in der englischen Ausgabe von Marx' »Kapital« benutzten überein. Wir bezeichnen als »Warenproduktion« diejenige ökonomische Phase, in welcher die Gegenstände nicht nur für den Gebrauch der Produzenten, sondern auch für Zwecke des Austausches produziert werden, d. h. als Waren, nicht als Gebrauchswerte. Diese Phase reicht von den ersten Anfängen der Produktion für den Austausch bis herab in unsre gegenwärtige Zeit; sie erlangt ihre volle Entwicklung erst unter der kapitalistischen Produktion, d. h. unter Bedingungen, wo der Kapitalist, der Eigentümer der Produktionsmittel, gegen Lohn Arbeiter beschäftigt, Leute, die aller Produktionsmittel, ihre eigne Arbeitskraft ausgenommen, beraubt sind, und den Überschuß des Verkaufspreises der Produkte über seine Auslagen einsteckt. Wir teilen die Geschichte der industriellen Produktion seit dem Mittelalter in drei Perioden ein: 1. Handwerk, kleine Handwerksmeister mit wenigen Gesellen und Lehrlingen, wobei jeder Arbeiter den vollständigen Artikel herstellt; 2. Manufaktur, wobei eine größre Anzahl Arbeiter, in einer großen Werkstätte gruppiert, den vollständigen Artikel nach dem Prinzip der Arbeitsteilung herstellt, indem jeder Arbeiter nur eine Teiloperation verrichtet, so daß das Produkt erst vollendet ist, nachdem es nacheinander durch die Hände aller gegangen ist; 3. moderne Industrie, wobei das Produkt durch die mittels Kraft angetriebene Maschinerie hergestellt wird und die Tätigkeit des Arbeiters sich darauf beschränkt, die Verrichtungen des Mechanismus zu überwachen und zu korrigieren.

Ich weiß sehr gut, daß der Inhalt dieses Büchleins einen großen Teil des britischen Publikums vor den Kopf stoßen wird. Aber hätten wir Kontinentalen die geringste Rücksicht genommen auf die Vorurteile der britischen »Respektabilität«, d. h. des britischen Philisteriums, so wären wir noch schlimmer dran als ohnehin der Fall ist. Diese Schrift vertritt das, was wir den »historischen Materialismus« nennen, und das Wort Materialismus ist für die Ohren der ungeheuren Mehrzahl britischer Leser ein schriller Mißton. »Agnostizismus« ginge noch an, aber Materialismus – rein unmöglich. Und doch ist die Urheimat alles modernen Materialismus, vom siebzehnten Jahrhundert an, nirgendswo anders als in – England.

»Der Materialismus ist der eingeborne Sohn Großbritanniens. Schon sein Scholastiker Duns Scotus fragte sich, ›ob die Materie nicht denken könne‹.

Um dies Wunder zu bewerkstelligen, nahm er zu Gottes Allmacht seine Zuflucht, d. h., er zwang die Theologie selbst, den Materialismus zu predigen. Er war überdem Nominalist. Der Nominalismus findet sich als ein Hauptelement bei den englischen Materialisten, wie er überhaupt der erste Ausdruck des Materialismus ist.

Der wahre Stammvater des englischen Materialismus ist Baco. Die Naturwissenschaft gilt ihm als die wahre Wissenschaft und die sinnliche Physik als der vornehmste Teil der Naturwissenschaft. Anaxagoras mit seinen Homoiomerien und Demokrit mit seinen Atomen sind häufig seine Autoritäten. Nach seiner Lehre sind die Sinne untrüglich und die Quelle aller Kenntnisse. Die Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft und besteht dann, eine rationelle Methode auf das sinnlich Gegebne anzuwenden. Induktion, Analyse, Vergleichung, Beobachtung, Experimentieren sind die Hauptbedingungen einer rationellen Methode. Unter den der Materie eingebornen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual – um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen [B] – der Materie. Die primitiven Formen der letztern sind lebendige, individualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produzierende Wesenskräfte.

In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an. Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen.

In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert; die Geometrie wird als die Hauptwissenschaft proklamiert. Der Materialismus wird menschenfeindlich. Um den menschenfeindlichen, fleischlosen Geist auf seinem eignen Gebiet überwinden zu können, muß der Materialismus selbst sein Fleisch abtöten und zum Asketen werden. Er tritt auf als ein Verstandeswesen, aber er entwickelt auch die rücksichtslose Konsequenz des Verstandes.

Wenn die Sinnlichkeit alle Kenntnisse den Menschen liefert, demonstriert Hobbes, von Baco ausgehend, so sind Anschauung, Gedanke, Vorstellung etc. nichts als Phantome der mehr oder minder von ihrer sinnlichen Form entkleideten Körperwelt. Die Wissenschaft kann diese Phantome nur benennen. Ein Name kann auf mehrere Phantome angewandt werden. Es kann sogar Namen von Namen geben. Es wäre aber ein Widerspruch, einerseits alle Ideen ihren Ursprung in der Sinnenwelt finden zu lassen und andrerseits zu behaupten, daß ein Wort mehr als ein Wort sei, daß es außer den vorgestellten, immer einzelnen Wesen noch allgemeine Wesen gebe. Eine unkörperliche Substanz ist vielmehr derselbe Widerspruch wie ein unkörperlicher Körper. Körper, Sein, Substanz ist eine und dieselbe reelle Idee. Man kann den Gedanken nicht von einer Materie trennen, die denkt. Sie ist das Subjekt aller Veränderungen. Das Wort unendlich ist sinnlos, wenn es nicht die Fähigkeit unsres Geistes bedeutet, ohne Ende hinzuzufügen. Weil nur das Materielle wahrnehmbar, wißbar ist, so weiß man nichts von Gottes Existenz. Nur meine eigne Existenz ist sicher. Jede menschliche Leidenschaft ist eine mechanische Bewegung, die endet oder anfängt. Die Objekte der Triebe sind das Gute. Der Mensch ist denselben Gesetzen unterworfen wie die Natur. Macht und Freiheit sind identisch.

Hobbes hatte den Baco systematisiert, aber sein Grundprinzip, den Ursprung der Kenntnisse und Ideen aus der Sinnenwelt, nicht näher begründet.

Locke begründet das Prinzip des Baco und Hobbes in seinem Versuch über den Ursprung des menschlichen Verstandes.

Wie Hobbes die theistischen Vorurteile des baconischen Materialismus vernichtete, so Collins, Dodwell, Coward. Hartley, Priestley etc. die letzte theologische Schranke des Lockeschen Sensualismus. Mehr als eine bequeme und nachlässige Weise, die Religion loszuwerden, ist der Deismus wenigstens für den Materialisten nicht.« [C]

So sprach Karl Marx sich aus über den britischen Ursprung des modernen Materialismus. Und wenn heutzutage die Engländer sich nicht besonders erbaut fühlen durch die Anerkennung, die er ihren Vorfahren zollte, so kann uns das nur leid tun. Es bleibt trotzdem unleugbar, daß Baco, Hobbes und Locke die Väter waren jener glänzenden Schule französischer Materialisten, die, trotz aller von Deutschen und Engländern zu Land und zur See über Franzosen erfochtnen Siege, das achtzehnte Jahrhundert zu einem vorwiegend französischen Jahrhundert machten; und das lange vor jener den Jahrhundertschluß krönenden französischen Revolution, deren Resultate wir andern, in England wie in Deutschland, noch immer zu akklimatisieren bestrebt sind.

Es ist nun einmal nicht zu leugnen. Wenn um die Mitte unseres Jahrhunderts ein gebildeter Ausländer in England Wohnsitz nahm, so fiel ihm eins am meisten auf, und das war – wie er es auffassen mußte – die religiöse Bigotterie und Dummheit der englischen »respektablen« Mittelklasse. Wir waren damals alle Materialisten oder doch sehr weitgehende Freidenker; es erschien uns unbegreiflich, daß fast alle gebildeten Leute in England an allerlei unmögliche Wunder glaubten und daß selbst Geologen wie Buckland und Mantell die Tatsachen ihrer Wissenschaft verdrehten, damit sie nur ja nicht zu sehr den Mythen der mosaischen Schöpfungsgeschichte ins Gesicht schlugen; unbegreiflich, daß, um Leute zu finden, die ihren Verstand in religiösen Dingen zu brauchen wagten, man gehn mußte zu den Ungebildeten, zu der »ungewaschenen Horde«, wie es damals hieß, zu den Arbeitern, besonders den owenistischen Sozialisten.

Aber seitdem ist England »zivilisiert« worden. Die Ausstellung von 1851 läutete die Totenglocke der englischen insularen Ausschließlichkeit. England internationalisierte sich allmählich, in Essen und Trinken, in Sitten, in Vorstellungen, so sehr, daß ich mehr und mehr wünsche, gewisse englische Sitten fänden auf dem Kontinent dieselbe allgemeine Annahme wie andre kontinentale Gebräuche in England. Soviel ist sicher: Die Ausbreitung des (vor 1851 nur der Aristokratie bekannten) Salatöls war begleitet von einer fatalen Ausbreitung des kontinentalen Skeptizismus in religiösen Dingen; und dahin ist es gekommen, daß der Agnostizismus zwar noch nicht für ebenso fein gilt wie die englische Staatskirche, aber doch, was Respektabilität anlangt, fast auf derselben Stufe steht wie die Baptistensekte und jedenfalls einen höheren Rang einnimmt als die Heilsarmee. Und da kann ich mir nicht anders vorstellen, als daß für viele, die diesen Fortschritt des Unglaubens von Herzen bedauern und verfluchen, es tröstlich sein wird, zu erfahren, daß diese neugebacknen Ideen nicht ausländischen Ursprungs, nicht mit der Marke: Made in Germany, deutsches Fabrikat, versehen sind wie so viele andre Artikel alltäglichen Gebrauchs, daß sie im Gegenteil altenglischen Ursprungs sind und daß ihre britischen Urheber vor zweihundert Jahren ein gut Stück weiter gingen als ihre Nachkommen heutigestags.

In der Tat, was ist Agnostizismus anders als verschämter Materialismus? Die Naturanschauung des Agnostikers ist durch und durch materialistisch. Die ganze natürliche Welt wird von Gesetzen beherrscht und schließt jederlei Einwirkung von außen absolut aus. Aber, setzt der Agnostiker vorsichtig hinzu, wir sind nicht imstande, die Existenz oder Nichtexistenz irgendeines höchsten Wesens jenseits der uns bekannten Welt zu beweisen. Dieser Vorbehalt mochte seinen Wert haben zur Zeit, als Laplace auf Napoleons Frage, warum in der »Mécanique céleste« des großen Astronomen der Schöpfer nicht einmal erwähnt sei, die stolze Antwort gab: Je n'avais pas besoin de cette hypothèse. [Ich bedurfte dieser Hypothese nicht.] Heute aber läßt unser Gedankenbild vom Weltall in seiner Entwicklung absolut keinen Raum weder für einen Schöpfer noch für einen Regierer; wollte man aber ein von der ganzen existierenden Welt ausgeschloßnes höchstes Wesen annehmen, so wäre das ein Widerspruch in sich selbst und obendrein, wie mir scheint, eine unprovozierte Verletzung der Gefühle religiöser Leute.

Ebenso gibt unser Agnostiker zu, daß all unser Wissen beruht auf den Mittellungen, die wir durch unsre Sinne empfangen. Aber, setzt er hinzu, woher wissen wir, ob unsre Sinne uns richtige Abbilder der durch sie wahrgenommenen Dinge geben? Und weiter berichtet er uns: Wenn er von Dingen oder ihren Eigenschaften spricht, so meint er in Wirklichkeit nicht diese Dinge und ihre Eigenschaften selbst, von denen er nichts Gewisses wissen kann, sondern nur die Eindrücke, die sie auf seine Sinne gemacht haben. Das ist allerdings eine Auffassungsweise, der es schwierig scheint, auf dem Wege der bloßen Argumentation beizukommen. Aber ehe die Menschen argumentierten, handelten sie. »Im Anfang war die Tat.« Und menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating. [Man prüft den Pudding, indem man ihn ißt.] In dem Augenblick, wo wir diese Dinge, je nach den Eigenschaften, die wir in ihnen wahrnehmen, zu unserm eignen Gebrauch anwenden, in demselben Augenblick unterwerfen wir unsre Sinneswahrnehmungen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit. Waren diese Wahrnehmungen unrichtig, dann muß auch unser Urteil über die Verwendbarkeit eines solchen Dings unrichtig sein, und unser Versuch, es zu verwenden, muß fehlschlagen. Erreichen wir aber unsern Zweck, finden wir, daß das Ding unsrer Vorstellung von ihm entspricht, daß es das leistet, wozu wir es anwandten, dann ist dies positiver Beweis dafür, daß innerhalb dieser Grenzen unsre Wahrnehmungen von dem Ding und von seinen Eigenschaften mit der außer uns bestehenden Wirklichkeit stimmen. Finden wir dagegen, daß wir einen Fehlstoß gemacht, dann dauert es meistens auch nicht lange, ehe wir die Ursache davon entdecken; wir finden, daß die unserm Versuch zugrunde gelegte Wahrnehmung entweder selbst unvollständig und oberflächlich oder mit den Ergebnissen andrer Wahrnehmungen in einer durch die Sachlage nicht gerechtfertigten Weise verkettet worden war. Solange wir unsre Sinne richtig ausbilden und gebrauchen und unsre Handlungsweise innerhalb der durch regelrecht gemachte und verwertete Wahrnehmungen gesetzten Schranken halten, solange werden wir finden, daß die Erfolge unsrer Handlungen den Beweis liefern für die Übereinstimmung unsrer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen Natur der wahrgenommenen Dinge. Nicht in einem einzigen Fall, soviel bis heute bekannt, sind wir zu dem Schluß gedrängt worden, daß unsre wissenschaftlich kontrollierten Sinneswahrnehmungen in unserm Gehirn Vorstellungen von der Außenwelt erzeugen, die ihrer Natur nach von der Wirklichkeit abweichen, oder daß zwischen der Außenwelt und unsren Sinneswahrnehmungen von ihr eine angeborne Unverträglichkeit besteht.

Aber dann kommt der neukantianische Agnostiker und sagt: Ja, wir können möglicherweise die Eigenschaften eines Dings richtig wahrnehmen, aber nicht durch irgendwelchen Sinnes- oder Denkprozeß das Ding selbst erfassen. Dies Ding an sich ist jenseits unsrer Kenntnis. Hierauf hat schon Hegel vor langer Zeit geantwortet: Wenn ihr alle Eigenschaften eines Dings kennt, so kennt ihr auch das Ding selbst; es bleibt dann nichts als die Tatsache, daß besagtes Ding außer uns existiert, und sobald eure Sinne euch diese Tatsache beigebracht haben, habt ihr den letzten Rest dieses Dings, Kants berühmtes unerkennbares Ding an sich, erfaßt. Heute können wir dem nur noch zufügen, daß zu Kants Zeit unsre Kenntnis der natürlichen Dinge fragmentarisch genug war, um hinter jedem noch ein besondres geheimnisvolles Ding an sich vermuten zu lassen. Aber seitdem sind diese unfaßbaren Dinge eines nach dem andern durch den Riesenfortschritt der Wissenschaft gefaßt, analysiert und, was mehr ist, reproduziert worden. Und was wir machen können, das können wir sicherlich nicht als unerkennbar bezeichnen. Für die Chemie der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts waren die organischen Substanzen solche geheimnisvolle Dinge. Jetzt lernen wir sie eine nach der andern aus den chemischen Elementen und ohne Hilfe organischer Prozesse aufbauen. Die moderne Chemie erklärt: Sobald die chemische Konstitution einerlei welches Körpers bekannt ist, kann dieser Körper aus den Elementen zusammengesetzt werden. Nun sind wir noch weit entfernt von genauer Kenntnis der Konstitution der höchsten organischen Substanzen, der sogenannten Eiweißkörper; aber es liegt durchaus kein Grund vor, warum wir nicht, wenn auch erst nach Jahrhunderten, diese Kenntnis erlangen und mit ihrer Hilfe künstliches Eiweiß machen sollten. Kommen wir aber dahin, so haben wir auch gleichzeitig organisches Leben produziert, denn Leben, von seinen niedrigsten bis zu seinen höchsten Formen, ist nichts als die normale Daseinsweise der Eiweißkörper.

Hat unser Agnostiker aber diese formellen Vorbehalte einmal gemacht, so spricht und handelt er ganz als der hartgesottne Materialist, der er im Grunde ist. Er mag sagen: Soweit wir wissen, kann Materie und Bewegung, oder wie man jetzt sagt, Energie, weder geschaffen noch vernichtet werden, aber wir haben keinen Beweis dafür, daß beide nicht zu irgendeiner unbekannten Zeit erschaffen worden sind. Versucht ihr aber einmal, dies Zugeständnis in einem gegebnen Fall gegen ihn zu verwerten, so wird er euch schleunigst ab- und zur Ruhe verweisen. Gibt er die Möglichkeit des Spiritualismus in abstracto zu, so will er in concreto nichts von ihr wissen. Er wird euch sagen: Soviel wir wissen und wissen können, gibt es keinen Schöpfer oder Regierer des Weltalls; soweit wir in Betracht kommen, sind Materie und Energie ebenso unerschaffbar wie unzerstörbar; für uns ist das Denken eine Form der Energie, eine Funktion des Gehirns; alles, was wir wissen, läuft darauf hinaus, daß die materielle Welt von unveränderlichen Gesetzen beherrscht wird – usw. usw.; soweit er also ein wissenschaftlicher Mann ist, soweit er etwas weiß, soweit ist er Materialist; außerhalb seiner Wissenschaft, auf Gebieten, wo er nicht zu Hause ist, übersetzt er seine Unwissenheit ins Griechische und nennt sie Agnostizismus.

Jedenfalls scheint eines sicher: Selbst wenn ich ein Agnostiker wäre, könnte ich die in diesem Büchlein skizzierte Geschichtsauffassung nicht bezeichnen als »historischen Agnostizismus«. Religiöse Leute würden mich auslachen, und die Agnostiker würden mich entrüstet fragen, ob ich sie verhöhnen will. Und so hoffe ich, daß auch die britische »Respektabilität«, die man auf deutsch Philisterium heißt, nicht gar zu entsetzt sein wird, wenn ich im Englischen, wie in so vielen andern Sprachen, den Ausdruck »historischer Materialismus« anwende zur Bezeichnung derjenigen Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs, die die schließliche Ursache und die entscheidende Bewegungskraft aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse sieht in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, in den Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, in der daraus entspringenden Spaltung der Gesellschaft in verschiedne Klassen und in den Kämpfen dieser Klassen unter sich.

Man wird mir diese Nachsicht vielleicht um so eher angedeihen lassen, wenn ich nachweise, daß der historische Materialismus von Nutzen sein kann sogar für die Respektabilität des britischen Philisters. Ich habe auf die Tatsache hingewiesen, daß vor vierzig oder fünfzig Jahren jedem gebildeten Ausländer, der sich in England niederließ, das unangenehm gegenübertrat, was ihm erscheinen mußte als die religiöse Bigotterie und Verranntheit der englischen »respektablen« Mittelklasse. Ich werde jetzt nachweisen, daß die respektable englische Mittelklasse jener Zeit doch nicht ganz so dumm war, wie sie dem intelligenten Ausländer erschien. Ihre religiösen Tendenzen lassen sich erklären.

Als Europa aus dem Mittelalter herauskam, war das emporkommende Bürgertum der Städte sein revolutionäres Element. Die anerkannte Stellung, die es sich innerhalb der mittelalterlichen Feudalverfassung erobert hatte, war bereits zu eng geworden für seine Expansionskraft. Die freie Entwicklung des Bürgertums vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem, das Feudalsystem mußte fallen.

Das große internationale Zentrum des Feudalsystems aber war die römisch-katholische Kirche. Sie vereinigte das ganze feudalisierte Westeuropa, trotz aller innern Kriege, zu einem großen politischen Ganzen, das im Gegensatz stand sowohl zu der schismatisch-griechischen wie zur muhammedanischen Welt. Sie umgab die Feudalverfassung mit dem Heiligenschein göttlicher Weihe. Sie hatte ihre eigne Hierarchie nach feudalem Muster eingerichtet, und schließlich war sie der größte aller Feudalherrn, denn mindestens der dritte Teil alles katholischen Grundbesitzes gehörte ihr. Ehe der weltliche Feudalismus in jedem Land und im einzelnen angegriffen werden konnte, mußte diese seine zentrale, geheiligte Organisation zerstört werden.

Schritt für Schritt mit dem Emporkommen des Bürgertums entwickelte sich aber der gewaltige Aufschwung der Wissenschaft. Astronomie, Mechanik, Physik, Anatomie, Physiologie wurden wieder betrieben. Das Bürgertum gebrauchte zur Entwicklung seiner industriellen Produktion eine Wissenschaft, die die Eigenschaften der Naturkörper und die Betätigungsweisen der Naturkräfte untersuchte. Bisher aber war die Wissenschaft nur die demütige Magd der Kirche gewesen, der es nicht gestattet war, die durch den Glauben gesetzten Schranken zu überschreiten – kurz, sie war alles gewesen, nur keine Wissenschaft. Jetzt rebellierte die Wissenschaft gegen die Kirche; das Bürgertum brauchte die Wissenschaft und machte die Rebellion mit.

Ich habe hiermit nur zwei der Punkte berührt, bei denen das emporstrebende Bürgertum mit der bestehenden Kirche in Kollision kommen mußte; das wird aber genügen zum Beweis, erstens, daß die bei dem Kampf gegen die Machtstellung der katholischen Kirche am meisten beteiligte Klasse eben dies Bürgertum war; und zweitens, daß damals jeder Kampf gegen den Feudalismus eine religiöse Verkleidung annehmen, sich in erster Instanz richten mußte gegen die Kirche. Wurde aber der Schlachtruf angestimmt von den Universitäten und den Geschäftsleuten der Städte, so fand er unvermeidlich starken Widerhall bei den Massen des Landvolks, den Bauern, die überall mit ihren geistlichen und weltlichen Feudalherrn einen harten Kampf kämpften, und zwar um die Existenz selbst.

Der große Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte in drei großen Entscheidungsschlachten.

Die erste war das, was wir die Reformation in Deutschland nennen. Dem Ruf Luthers zur Rebellion gegen die Kirche antworteten zwei politische Aufstände: zuerst der des niedern Adels unter Franz von Sickingen 1523, dann der große Bauernkrieg 1525. Beide wurden erdrückt, hauptsächlich infolge der Unentschlossenheit der meistbeteiligten Partei, der Städtebürger- eine Unentschlossenheit, deren Ursachen wir hier nicht untersuchen können. Von dem Augenblick an entartete der Kampf in einen Krakeel zwischen den Einzelfürsten und der kaiserlichen Zentralgewalt und hatte zur Folge, daß Deutschland für 200 Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen wurde. Die lutherische Reformation brachte es allerdings zu einer neuen Religion – und zwar zu einer solchen, wie die absolute Monarchie sie grade brauchte. Kaum hatten die nordostdeutschen Bauern das Luthertum angenommen, so wurden sie auch von freien Männern zu Leibeignen degradiert.

Aber wo Luther fehlschlug, da siegte Calvin. Sein Dogma war den kühnsten der damaligen Bürger angepaßt. Seine Gnadenwahl war der religiöse Ausdruck der Tatsache, daß in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankrott nicht abhängt von der Tätigkeit oder dem Geschick des einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind. »So liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern am Erbarmen« überlegner, aber unbekannter ökonomischer Mächte. Und dies war ganz besonders wahr zu einer Zeit ökonomischer Umwälzung, wo alle alten Handelswege und Handelszentren durch neue verdrängt, wo Amerika und Indien der Welt eröffnet wurden und wo selbst die altehrwürdigsten ökonomischen Glaubensartikel – die Werte des Goldes und Silbers – ins Wanken und Krachen gerieten. Dazu war Calvins Kirchenverfassung durchweg demokratisch und republikanisch; wo aber das Reich Gottes republikanisiert war, konnten da die Reiche dieser Welt Königen, Bischöfen und Feudalherrn Untertan bleiben? Wurde das deutsche Luthertum ein gefügiges Werkzeug in den Händen deutscher Kleinfürsten, so gründete der Calvinismus eine Republik in Holland und starke republikanische Parteien in England und namentlich in Schottland.

Im Calvinismus fand die zweite große Erhebung des Bürgertums ihre Kampftheorie fertig vor. Diese Erhebung fand statt in England. Das Bürgertum der Städte setzte sie in Gang, und die Mittelbauern (yeomanry) der Landdistrikte erkämpften den Sieg. Es ist sonderbar genug: In allen den drei großen bürgerlichen Revolutionen liefern die Bauern die Armee zum Schlagen, und die Bauern sind grade die Klasse, die nach erfochtnem Sieg durch die ökonomischen Folgen dieses Siegs am sichersten ruiniert wird. Hundert Jahre nach Cromwell war die yeomanry Englands so gut wie verschwunden. jedenfalls aber war es nur durch die Einmischung dieser yeomanry und des plebejischen Elements der Städte, daß der Streit bis auf die letzte Entscheidung durchgekämpft wurde und Karl I. aufs Schafott kam. Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, daß die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde – ganz wie 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland. Es scheint dies in der Tat eins der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu sein.

Auf dies Übermaß revolutionärer Tätigkeit folgte die unvermeidliche Reaktion, die ihrerseits weit übers Ziel hinausschoß. Nach einer Reihe von Schwankungen wurde der neue Schwerpunkt endlich festgehalten und diente der weitern Entwicklung als Ausgangspunkt. Die großartige Periode der englischen Geschichte, die vom Philisterium als »die große Rebellion« bezeichnet wird, und die ihr folgenden Kämpfe erreichen ihren Abschluß in dem verhältnismäßig winzigen Ereignis von 1689, das die liberale Geschichtsschreibung »die ruhmreiche Revolution« nennt.

Der neue Ausgangspunkt war ein Kompromiß zwischen der aufkommenden Bourgeoisie und den ehemals feudalen Großgrundbesitzern. Diese, obwohl damals wie heute als die Aristokratie bezeichnet, waren schon längst auf dem Wege, das zu werden, was Louis-Philippe in Frankreich erst viel später wurde: die ersten Bourgeois der Nation. Zum Glück für England hatten sich die alten Feudalbarone in den Rosenkriegen gegenseitig totgeschlagen. Ihre Nachfolger, wenn auch meist Sprößlinge derselben alten Familien, kamen doch von so entfernten Seitenlinien, daß sie eine ganz neue Körperschaft ausmachten; ihre Gewohnheiten und Tendenzen waren weit mehr bürgerlich als feudal; sie kannten vollauf den Wert des Geldes und gingen sofort auf Erhöhung ihrer Bodenrenten aus, indem sie Hunderte kleiner Pächter durch Schafe verdrängten. Heinrich VIII. schuf massenweise neue Bourgeois-Landlords, indem er die Kirchengüter verschenkte und verschleuderte; dasselbe taten die bis Ende des siebzehnten Jahrhunderts ununterbrochen fortgesetzten Konfiskationen von großen Gütern, die dann an ganze oder halbe Emporkömmlinge vergeben wurden. Daher hatte die englische »Aristokratie« seit Heinrich VII. nicht nur der Entwicklung der industriellen Produktion nicht entgegengewirkt, sondern umgekehrt aus ihr Nutzen zu ziehn gesucht. Und ebenso hatte sich jederzeit ein Teil der großen Grundbesitzer, aus ökonomischen oder politischen Beweggründen, bereit finden lassen zum Zusammenwirken mit den Führern der finanziellen und industriellen Bourgeoisie. So war also der Kompromiß von 1689 leicht zustande gekommen. Die politischen spolia optima [besten Beutestücke] – Ämter, Sinekuren, große Gehälter – verblieben den großen Landadelsfamilien unter der Bedingung, daß sie die ökonomischen Interessen der finanziellen, fabrizierenden und handeltreibenden Mittelklasse genügend wahrnähmen. Und diese ökonomischen Interessen waren schon damals mächtig genug; sie bestimmten schließlich die allgemeine Politik der Nation. Über Einzelfragen mochte man sich zanken, aber die aristokratische Oligarchie wußte nur zu gut, wie untrennbar ihre eigne ökonomische Prosperität verkettet war mit der der industriellen und kommerziellen Bourgeoisie.

Von dieser Zeit an war die Bourgeoisie ein bescheidner, aber anerkannter Bestandteil der herrschenden Klassen Englands. Mit ihnen allen hatte sie gemein das Interesse an der Niederhaltung der großen arbeitenden Masse des Volks. Der Kaufmann oder Fabrikant selbst hatte gegenüber seinen Kommis, seinen Arbeitern, seinem Gesinde die Stellung des Brotherrn, oder wie man das noch vor kurzem in England nannte, des »natürlichen Vorgesetzten«. Er mußte aus ihnen so viel und so gute Arbeit herausschlagen wie möglich; zu diesem Zweck hatte er sie zur entsprechenden Unterwürfigkeit zu erziehen. Er war selbst religiös; seine Religion hatte ihm die Fahne geliefert, worunter er König und Lords bekämpft hatte; nicht lange, so hatte er auch die Mittel entdeckt, die diese Religion ihm bot, um die Gemüter seiner natürlichen Untergebenen zu bearbeiten und sie gehorsam zu machen den Befehlen der Brotherrn, die Gottes unerforschlicher Ratschluß ihnen vorgesetzt. Kurz, der englische Bourgeois war jetzt mitbeteiligt bei der Niederhaltung der »niederen Stände«, der großen produzierenden Volksmasse, und eins der dabei gebrauchten Mittel war der Einnuß der Religion.

Es kam aber noch ein andrer Umstand dazu, der die religiösen Neigungen der Bourgeoisie stärkte: das Aufkommen des Materialismus in England. Diese neue gottlose Lehre entsetzte nicht nur den frommen Mittelstand, sie kündigte sich obendrein noch an als eine Philosophie, die sich nur schicke für Gelehrte und gebildete Weltleute, im Gegensatz zur Religion, die gut genug sei für die ungebildete große Masse, mit Einschluß der Bourgeoisie. Mit Hobbes betrat sie die Bühne als Verteidigerin königlicher Allgewalt und rief die absolute Monarchie auf zur Niederhaltung jenes puer robustus sed malitiosus [ein kerniger aber bösartiger Bursche], des Volks. Und auch bei Hobbes' Nachfolgern, Bolingbroke, Shaftesbury etc., blieb die neue, deistische Form des Materialismus eine aristokratische, esoterische Lehre und deshalb der Bourgeoisie verhaßt nicht nur wegen ihrer religiösen Ketzerei, sondern auch wegen ihrer antibürgerlichen politischen Konnexionen. Demgemäß stellten auch, im Gegensatz zum Materialismus und Deismus der Aristokratie, grade die protestantischen Sekten, die die Fahne und die Mannschaft im Kampf gegen die Stuarts geliefert, ebenfalls die Hauptstreitkräfte der fortschrittlichen Mittelklasse und bilden noch heute den Rückgrat der »großen liberalen Partei«.

Inzwischen verpflanzte sich der Materialismus von England nach Frankreich, wo er eine zweite materialistische Philosophenschule vorfand, die aus dem Cartesianismus hervorgegangen war und mit der er verschmolz. Auch in Frankreich blieb er anfangs eine ausschließlich aristokratische Doktrin. Bald aber trat sein revolutionärer Charakter an den Tag. Die französischen Materialisten beschränkten ihre Kritik nicht auf bloß religiöse Dinge; sie kritisierten jede wissenschaftliche Überlieferung, jede politische Institution ihrer Zeit; um die allgemeine Anwendbarkeit ihrer Theorie nachzuweisen, nahmen sie den kürzesten Weg: Sie wandten sie kühnlich an auf alle Gegenstände des Wissens in dem Riesenwerk, nach dem sie benannt wurden, in der »Encyclopédie«. So wurde denn der Materialismus in dieser oder jener Form – als erklärter Materialismus oder als Deismus – die Weltanschauung der gesamten gebildeten Jugend Frankreichs; und zwar in solchem Maß, daß während der großen Revolution die von englischen Royalisten in die Welt gesetzte Lehre den französischen Republikanern und Terroristen die theoretische Fahne lieferte und den Text für die »Erklärung der Menschenrechte« abgab.

Die große französische Revolution war die dritte Erhebung der Bourgeoisie, aber die erste, die den religiösen Mantel gänzlich abgeworfen hatte und auf unverhüllt politischem Boden ausgekämpft wurde. Sie war aber auch die erste, die wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung des einen Kombattanten, der Aristokratie, und zum vollständigen Sieg des andern, der Bourgeoisie. In England fanden die ununterbrochene Kontinuität der vorrevolutionären und nachrevolutionären Institutionen und der Kompromiß zwischen Großgrundbesitzern und Kapitalisten ihren Ausdruck in der Kontinuität der gerichtlichen Präzedenzfälle wie in der respektvollen Beibehaltung der feudalen Gesetzesformen. In Frankreich machte die Revolution einen vollständigen Bruch mit den Traditionen der Vergangenheit, fegte die letzten Spuren des Feudalismus weg und schuf im Code civil eine meisterhafte Anpassung, an modern kapitalistische Verhältnisse, des alten römischen Rechts – jenes fast vollkommenen Ausdrucks der juristischen Beziehungen, die aus der von Marx als »Warenproduktion« bezeichneten ökonomischen Entwicklungsstufe entspringen; so meisterhaft, daß dies revolutionäre französische Gesetzbuch noch heute in allen andern Ländern – England nicht ausgenommen – als Muster dient bei Reformen des Eigentumsrechts. Vergessen wir aber darüber eines nicht. Wenn das englische Recht fortfährt, die ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft auszudrücken in einer barbarischen Feudalsprache, die der auszudrückenden Sache ganz so entspricht wie die englische Orthographie der englischen Aussprache – vous écrivez Londres et vous prononcez Constantinople [ihr schreibt London und sprecht Konstantinopel], sagte ein Franzose –, so ist dies selbe englische Recht auch das einzige, das unverfälscht aufrechterhalten und nach Amerika und den Kolonien verpflanzt hat den besten Teil jener persönlichen Freiheit, lokalen Selbstverwaltung und Sicherung vor allen fremden Eingriffen außer denen der Gerichte, kurz, jener altgermanischen Freiheiten, die auf dem Kontinent unter der absoluten Monarchie verlorengegangen und bis jetzt nirgends vollständig wiedererobert sind.

Doch zurück zu unserm britischen Bourgeois. Die französische Revolution gab ihm eine herrliche Gelegenheit, mit Hilfe der kontinentalen Monarchien den französischen Seehandel zu ruinieren, französische Kolonien zu annexieren und die letzten französischen Ansprüche auf Nebenbuhlerschaft zur See zu unterdrücken. Das war der eine Grund, warum er sie bekämpfte. Ein zweiter war, daß die Methoden dieser Revolution ihm sehr wider die Haare gingen. Nicht nur ihr »verdammenswerter« Terrorismus, sondern schon ihr Versuch, die Bourgeoisherrschaft bis aufs äußerste durchzuführen. Was in aller Welt sollte der britische Bourgeois anfangen ohne seine Aristokratie, die ihm Manieren beibrachte (sie waren auch danach) und Moden für ihn erfand, die die Offiziere lieferte für die Armee, die Erhalterin der Ordnung zu Hause, und für die Flotte, die Eroberin neuer Kolonialbesitzungen und neuer Märkte? – Allerdings fand sich auch eine fortschrittliche Minorität der Bourgeoisie, Leute, deren Interessen bei dem Kompromiß nicht so gut wegkamen; diese Minorität, aus der geringeren Mittelklasse bestehend, sympathisierte mit der Revolution, aber sie war machtlos im Parlament.

Je mehr also der Materialismus das Credo der französischen Revolution wurde, desto fester hielt der gottesfürchtige englische Bourgeois an seiner Religion. Hatte nicht die Schreckenszeit in Paris bewiesen, was daraus entsteht, wenn dem Volk die Religion abhanden kommt? Je mehr der Materialismus sich von Frankreich über die Nachbarländer ausbreitete und durch verwandte theoretische Strömungen, namentlich durch die deutsche Philosophie, Verstärkung erhielt, je mehr in der Tat auf dem Kontinent Materialismus und Freidenkertum überhaupt die notwendige Qualifikation eines gebildeten Menschen wurde, desto zäher hielt die englische Mittelklasse an ihren mannigfachen religiösen Glaubensbekenntnissen. Sie mochten noch so sehr voneinander abweichen, entschieden religiöse, christliche Bekenntnisse waren sie alle.

Während die Revolution den politischen Triumph der Bourgeoisie in Frankreich sicherstellte, leiteten in England Watt, Arkwright, Cartwright und andere eine industrielle Revolution ein, die den Schwerpunkt der ökonomischen Macht vollständig verschob. Der Reichtum der Bourgeoisie wuchs jetzt unendlich schneller als der der Grundaristokratie. Innerhalb der Bourgeoisie selbst trat die Finanzaristokratie, die Bankiers etc., mehr und mehr in den Hintergrund vor den Fabrikanten. Der Kompromiß von 1689, selbst nach den allmählich erfolgten Abänderungen zugunsten der Bourgeoisie, entsprach nicht mehr der gegenseitigen Stellung der Beteiligten. Der Charakter dieser Beteiligten hatte sich ebenfalls geändert; die Bourgeoisie von 1830 war sehr verschieden von der des vorigen Jahrhunderts. Die der Aristokratie noch verbliebne und gegen die Ansprüche der neuen industriellen Bourgeoisie in Bewegung gesetzte politische Macht wurde unverträglich mit den neuen ökonomischen Interessen. Ein erneuter Kampf gegen die Aristokratie wurde nötig; er konnte nur endigen mit dem Sieg der neuen ökonomischen Macht. Unter dem Impuls der französischen Revolution von 1830 wurde zuerst trotz alles Widerstands die Reformakte durchgesetzt. Das gab der Bourgeoisie eine anerkannte und mächtige Stellung im Parlament. Dann kam die Abschaffung der Korngesetze, die ein für allemal die Vorherrschaft der Bourgeoisie und namentlich die ihres tätigsten Teils, der Fabrikanten, über die Grundaristokratie herstellte. Es war dies der größte Sieg der Bourgeoisie, aber auch der letzte, den sie in ihrem eignen ausschließlichen Interesse gewann. Alle ihre späteren Triumphe hatte sie zu teilen mit einer neuen, ihr anfangs verbündeten, nachher aber mit ihr rivalisierenden sozialen Macht.

Die industrielle Revolution hatte eine Klasse großer fabrizierender Kapitalisten geschaffen, aber auch eine weit zahlreichere Klasse fabrizierender Arbeiter. Diese Klasse wuchs fortwährend an Zahl, im Maß, wie die industrielle Revolution einen Produktionszweig nach dem andern ergriff. Mit ihrer Zahl aber wuchs auch ihre Macht, und diese Macht zeigte sich schon 1824, wo sie das widerhaarige Parlament zur Aufhebung der Gesetze gegen die Koalitionsfreiheit zwang. Während der Reformagitation machten die Arbeiter den radikalen Flügel der Reformpartei aus; als die Akte von 1832 sie vom Stimmrecht ausschloß, faßten sie ihre Forderungen in der Volks-Charte (people's charter) zusammen und konstituierten sich, im Gegensatz zur großen bürgerlichen Anti-Korngesetz-Partei, als unabhängige Chartistenpartei. Es war dies die erste Arbeiterpartei unserer Zeit.

Dann kamen die kontinentalen Revolutionen vom Februar und März 1848, worin die Arbeiter eine so bedeutende Rolle spielten und wo sie, wenigstens in Paris, mit Forderungen auftraten, die entschieden unzulässig waren vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft. Und dann erfolgte die allgemeine Reaktion. Zuerst die Niederlage der Chartisten am 10 .April 1848, dann die Zermalmung des Pariser Arbeiteraufstands vom Juni desselben Jahres, dann die Unfälle von 1849 in Italien, Ungarn, Süddeutschland, endlich der Sieg des Louis Bonaparte über Paris am 2. Dezember 1851. So war, wenigstens für einige Zeit, der Popanz der Arbeiterforderungen verscheucht, aber mit welchem Kostenaufwand! War also der britische Bourgeois schon früher überzeugt von der Notwendigkeit, das gemeine Volk in religiöser Stimmung zu erhalten, um wieviel dringender mußte er diese Notwendigkeit empfinden nach allen diesen Erfahrungen? Und ohne von dem Hohnlächeln seiner kontinentalen Genossen die geringste Notiz zu nehmen, fuhr er fort, Tausende und Zehntausende aufzuwenden, jahraus, jahrein, für die Evangelisierung der niederen Stände. Nicht zufrieden mit seiner eignen religiösen Maschinerie, wandte er sich an Bruder Jonathan, den dermaligen größten Organisator des religiösen Geschäfts, und importierte aus Amerika den Revivalismus, Moody und Sankey und so weiter; schließlich nahm er sogar den gefährlichen Beistand der Heilsarmee an, die die Propagandamittel des Urchristentums neu belebt, die an die Armen sich wendet als an die Auserwählten, die den Kapitalismus in ihrer religiösen Weise bekämpft und so ein Element urchristlichen Klassenkampfs züchtet, das eines Tages den wohlhabenden Leuten, die heute das bare Geld dafür beischaffen, sehr fatal werden kann.

Es scheint ein Gesetz der historischen Entwicklung, daß die Bourgeoisie in keinem europäischen Land die politische Macht – wenigstens nicht für längere Zeit – in derselben ausschließlichen Weise erobern kann, wie die Feudalaristokratie sie während des Mittelalters sich bewahrte. Selbst in Frankreich, wo der Feudalismus so vollständig ausgerottet wurde, hat die Bourgeoisie, als Gesamtklasse, die Herrschaft nur während kurzer Zeiträume besessen. Unter Louis-Philippe, 1830-1848, herrschte nur ein kleiner Teil der Bourgeoisie, der bei weitem größere war durch den hohen Zensus vom Wahlrecht ausgeschlossen. Unter der zweiten Republik herrschte die ganze Bourgeoisie, aber nur drei Jahre; ihre Unfähigkeit bahnte den Weg für das zweite Kaisertum. Erst jetzt, unter der dritten Republik, hat die Bourgeoisie als Gesamtheit zwanzig Jahre hindurch das Steuer geführt, und dabei entwickelt sie schon jetzt erfreuliche Zeichen des Verfalls. Eine langjährige Herrschaft der Bourgeoisie war bis jetzt nur möglich in Ländern wie Amerika, wo der Feudalismus nie bestand und die Gesellschaft von vornherein von bürgerlicher Grundlage ausging. Und selbst in Frankreich und Amerika klopfen die Nachfolger der Bourgeoisie, die Arbeiter, schon laut an die Tür.

In England hat die Bourgeoisie nie ungeteilte Herrschaft geübt. Selbst der Sieg von 1832 ließ die Aristokratie in fast ausschließlichem Besitz aller hohen Regierungsämter. Die Unterwürfigkeit, womit die reiche Mittelklasse sich das gefallen ließ, blieb mir unerklärlich, bis eines Tages der große liberale Fabrikant Herr W. E. Forster in einer Rede die jungen Leute von Bradford anflehte, ihres eignen Fortkommens wegen doch ja Französisch zu lernen, und dabei erzählte, wie schafsmäßig er sich vorgekommen, als er, Staatsminister geworden, auf einmal in eine Gesellschaft versetzt wurde, wo Französisch mindestens so nötig war wie Englisch! Und in der Tat waren die damaligen englischen Bourgeois, im Durchschnitt, ganz ungebildete Emporkömmlinge, die wohl oder übel der Aristokratie alle jene höheren Regierungsposten überlassen mußten, wo andre Eigenschaften gefordert wurden als insulare Beschränktheit und insulare Aufgeblasenheit, gepfeffert durch Geschäftsschlauheit. [D] Selbst heute noch zeigen die endlosen Zeitungsdebatten über »Middle-class-education« [»bürgerliche Bildung«], daß die englische Mittelklasse sich noch immer nicht gut genug hält für die beste Erziehung und sich nach etwas Bescheidnerem umsieht. Es schien also auch nach Abschaffung der Korngesetze selbstverständlich, daß die Leute, die den Sieg erkämpft, die Cobdens, Brights, Forsters etc., von jeder Beteiligung an der offiziellen Regierung ausgeschlossen blieben, bis endlich, zwanzig Jahre später, eine neue Reformakte ihnen die Tür des Ministeriums öffnete. Ja, bis heute ist die englische Bourgeoisie so tief durchdrungen vom Gefühl ihrer eignen gesellschaftlichen Inferiorität, daß sie auf ihre eignen und des Volkes Kosten eine Zierkaste von Faulenzern unterhält, die die Nation bei allen Prunkgelegenheiten würdig repräsentieren muß, und daß sie selbst sich höchlichst geehrt fühlt, wenn ein beliebiger Bourgeois würdig befunden wird der Zulassung in diese, schließlich von der Bourgeoisie selbst fabrizierte, exklusive Körperschaft.

So hatte also die industrielle und kommerzielle Mittelklasse es noch nicht fertiggebracht, die Grundaristokratie vollständig von der politischen Macht zu vertreiben, als der neue Konkurrent, die Arbeiterklasse, auf der Bühne erschien. Die Reaktion nach der Chartistenbewegung und den kontinentalen Revolutionen, dazu die unerhörte Ausdehnung der englischen Industrie von 1848 bis 1866 (die gewöhnlich allein dem Freihandel zugut geschrieben wird, die aber weit mehr der kolossalen Ausdehnung der Eisenbahnen, Ozeandampfer und Verkehrsmittel überhaupt geschuldet ist), hatte die Arbeiter wiederum in die Abhängigkeit von den Liberalen gebracht, bei denen sie, wie zur vorchartistischen Zeit, den radikalen Flügel bildeten. Allmählich aber wurden die Ansprüche der Arbeiter auf das Stimmrecht unwiderstehlich; während die Whigs, die Führer der Liberalen, noch angstmeierten, bewies Disraeli seine Überlegenheit; er nutzte den günstigen Moment für die Tories aus, indem er das Household-Stimmrecht (das jeden einschloß, der ein apartes Haus bewohnte) in den städtischen Wahlbezirken einführte und damit eine Änderung der Wahlbezirke verband. Dann folgte bald die geheime Abstimmung (the ballot); dann, 1884, die Ausdehnung des Household-Stimmrechts auf alle, auch die Grafschaftswahlbezirke, und eine neue Verteilung der Wahlkreise, die diese wenigstens einigermaßen ausglich. Durch alles dies wurde die Macht der Arbeiterklasse bei den Wahlen so sehr vermehrt, daß sie jetzt in 150 bis 200 Wahlkreisen die Mehrzahl der Wähler stellt. Aber keine bessere Schule des Respekts vor der Überlieferung als das parlamentarische System! Wenn die Mittelklasse mit Andacht und Ehrfurcht auf die Gruppe schaut, die Lord John Manners scherzweise »unsern alten Adel« nennt, so blickte damals die Masse der Arbeiter mit Respekt und Ehrerbietung auf die damals sogenannte »bessere Klasse«, die Bourgeoisie. Und tatsächlich war der britische Arbeiter vor fünfzehn Jahren der Musterarbeiter, dessen respektvolle Rücksichtnahme auf die Stellung seines Arbeitgebers und dessen Selbstbezähmung und Demut bei Erhebung seiner eignen Ansprüche Balsam in die Wunden goß, die unsern deutschen Kathedersozialisten geschlagen waren durch die unheilbaren kommunistischen und revolutionären Tendenzen ihrer heimischen deutschen Arbeiter.

Jedoch die englischen Bourgeois waren gute Geschäftsleute und sahen weiter als die deutschen Professoren. Nur widerwillig hatten sie ihre Macht mit den Arbeitern geteilt. Während der Chartistenzeit hatten sie gelernt, wessen jener puer robustus sed malitiosus, das Volk, fähig ist. Seitdem war ihnen der größere Teil der Volks-Charte aufgenötigt und Landesgesetz geworden. Mehr als je galt es jetzt, das Volk im Zaum zu halten durch moralische Mittel; das erste und wichtigste moralische Mittel aber, womit man auf die Massen wirkt, blieb – die Religion. Daher stammen die Pfaffenmajoritäten in den Schulbehörden, daher die wachsende Selbstbesteurung der Bourgeoisie für alle möglichen Sorten frommer Demagogie, vom Ritualismus bis zur Heilsarmee.

Und jetzt kam der Triumph des britischen respektablen Philisteriums über die Freigeisterei und religiöse Indifferenz des kontinentalen Bourgeois. Die Arbeiter Frankreichs und Deutschlands waren rebellisch geworden. Sie waren total vom Sozialismus durchseucht und dabei, aus sehr guten Gründen, keineswegs sehr versessen auf die Gesetzlichkeit der Mittel, sich die Herrschaft zu erobern. Der puer robustus war hier in der Tat täglich mehr malitiosus geworden. Was blieb dem französischen und deutschen Bourgeois als letzte Hülfsquelle anders, als ihre Freigeisterei stillschweigend fallenzulassen, ganz wie ein kecker Bengel, wenn die Seekrankheit ihn mehr und mehr beschleicht, die brennende Zigarre verschwinden läßt, mit der er renommistisch an Bord stolziert war? Einer nach dem andern nahmen die Spötter ein äußerlich frommes Wesen an, sprachen mit Achtung von der Kirche, ihren Lehren und Gebräuchen, und machten selbst von den letzteren soviel mit, als nicht zu umgehn war. Französische Bourgeois wiesen am Freitag Fleisch zurück, und deutsche Bourgeois schwitzten in ihren Kirchenstühlen ganze endlose protestantische Predigten durch. Sie waren mit ihrem Materialismus ins Pech geraten. »Die Religion muß dem Volk erhalten werden« – das war das letzte und einzige Mittel zur Rettung der Gesellschaft vor totalem Untergang. Zum Unglück für sie selbst entdeckten sie dies erst, nachdem sie ihr Menschenmöglichstes getan, die Religion für immer zu ruinieren. Und da kam der Moment, wo der britische Bourgeois an der Reihe war zu höhnen und ihnen zuzurufen: Ihr Narren, das hätte ich euch schon vor zweihundert Jahren sagen können!

Jedennoch, fürchte ich, wird weder die religiöse Vernageltheit des britischen noch die post festum erfolgte Bekehrung des kontinentalen Bourgeois die ansteigende proletarische Flut eindämmen. Die Tradition ist eine große hemmende Kraft, sie ist die Trägheitskraft der Geschichte. Aber sie ist bloß passiv und muß deshalb unterliegen. Auch die Religion bildet auf die Dauer keine Schutzmauer der kapitalistischen Gesellschaft. Sind unsre juristischen, philosophischen und religiösen Vorstellungen die nähern oder entferntern Sprößlinge der in einer gegebnen Gesellschaft herrschenden ökonomischen Verhältnisse, so können diese Vorstellungen sich nicht auf die Dauer halten, nachdem die ökonomischen Verhältnisse sich gründlich geändert. Entweder müssen wir an übernatürliche Offenbarung glauben oder zugeben, daß keine religiösen Predigten eine zusammenbrechende Gesellschaft zu stützen imstande sind.

Und in der Tat, auch in England haben die Arbeiter wieder angefangen sich zu bewegen. Unzweifelhaft sind sie gefesselt durch allerlei Traditionen. Bourgeoistraditionen – so der weitverbreitete Aberglaube, es seien nur zwei Parteien möglich, Konservative und Liberale, und die Arbeiterklasse müsse sich ihre Erlösung erarbeiten vermittelst der großen liberalen Partei. Arbeitertraditionen, ererbt aus der Zeit ihrer ersten tastenden Versuche selbständigen Handelns – so die Ausschließung, bei zahlreichen alten Trades Unions, aller derjenigen Arbeiter, die keine regelmäßige Lehrzeit durchgemacht; was nichts andres heißt, als daß jede solche Union sich ihre eignen Strikebrecher züchtet. Aber trotz alledem und alledem bewegt sich die englische Arbeiterklasse vorwärts, wie selbst Herr Professor Brentano seinen kathedersozialistischen Brüdern mit Leidwesen zu berichten genötigt war. Sie bewegt sich, wie alles in England, mit langsamem, gemessenem Schritt, mit Zaudern hier, mit teilweis unfruchtbaren, tastenden Versuchen dort; sie bewegt sich stellenweise mit übervorsichtigem Mißtrauen gegen den Namen Sozialismus, während sie die Sache allmählich in sich aufnimmt; sie bewegt sich, und die Bewegung ergreift eine Schicht der Arbeiter nach der andern. Jetzt hat sie die ungelernten Arbeiter des Londoner Ostendes aus ihrem Todesschlaf emporgerüttelt, und wir alle haben gesehn, welchen prächtigen Anstoß diese neuen Kräfte ihr dafür zurückgegeben haben. Und wenn die Gangart der Bewegung nicht Schritt hält mit der Ungeduld dieser und jener, so mögen diese und jene nicht vergessen, daß es gerade die Arbeiterklasse ist, die die besten Seiten des englischen Nationalcharakters lebendig erhält, und daß jeder Schritt vorwärts, der in England einmal gewonnen ist, nie wieder verlorengeht. Waren die Söhne der alten Chartisten, aus vorhin erwähnten Gründen, nicht alles, was man erwarten konnte, so sieht es doch aus, als würden die Enkel der Großväter würdig sein,

Indes hängt der Sieg der europäischen Arbeiterklasse nicht von England allein ab. Er kann nur sichergestellt werden durch das Zusammenwirken von mindestens England, Frankreich und Deutschland. In den beiden letztern Ländern ist die Arbeiterbewegung der englischen ein gut Stück voraus. In Deutschland steht sie sogar innerhalb meßbarer Entfernung vom Triumph. Der Fortschritt, den sie dort seit fünfundzwanzig Jahren gemacht, ist ohnegleichen. Er bewegt sich voran mit stets wachsender Geschwindigkeit. Hat die deutsche Bourgeoisie bewiesen, welchen jammervollen Mangel sie leidet an politischer Fähigkeit, Disziplin, Mut, Energie, so hat die deutsche Arbeiterklasse gezeigt, daß sie alle diese Eigenschaften in reichlichem Maß besitzt. Vor fast vierhundert Jahren war Deutschland der Ausgangspunkt der ersten großen Erhebung der europäischen Mittelklasse; wie die Dinge heute liegen, sollte es unmöglich sein, daß Deutschland auch der Schauplatz sein wird für den ersten großen Sieg des europäischen Proletariats?

I.

Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint er anfänglich als eine weitergetriebne, angeblich konsequentere Fortführung der von den großen französischen Aufklärem des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze. Wie jede neue Theorie, mußte er zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial, sosehr auch seine Wurzel in den materiellen ökonomischen Tatsachen lag.

Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde [1] , zuerst in dem Sinn, daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundnen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitern Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde.

Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte. Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.

Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und dem als Vertreterin der gesamten übrigen Gesellschaft auftretenden Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch gerade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter nicht einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen. Noch mehr. Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältnis wie der mittelalterliche Zunftbürger sich zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnis entwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Taglöhner zum Proletarier.

Und wenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit dem Adel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zeitmit zu vertreten, so brachen doch, bei jeder großen bürgerlichen Bewegung, selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformnations- und der Bauernkriegszeit die Wiedertäufer und Thomas Münzer; in der großen englischen Revolution die Levellers; in der Großen Französischen Revolution Babeuf. Neben diesen revolutionären Schilderhebungen einer noch unfertigen Klasse gingen entsprechende theoretische Kundgebungen; im 16. und 17. Jahrhundert utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände; im 18. schon direkt kommunistische Theorien (Morelly und Mably).

Die Forderung der Gleichheit wurde nicht mehr auf die politischen Rechte beschränkt, sie sollte sich auch auf die gesellschaftliche Lage der einzelnen erstrecken; nicht bloß die Klassenvorrechte sollten aufgehoben werden, sondern die Klassenunterschiede selbst. Ein asketischer, allen Lebensgenuß verpönender, an Sparta anknüpfender Kommunismus war so die erste Erscheinungsform der neuen Lehre. Dann folgten die drei großen Utopisten: Saint-Simon, bei dem die bürgerliche Richtung noch neben der proletarischen eine gewisse Geltung behielt; Fourier und Owen, der, im Lande der entwickeltsten kapitalistischen Produktion und unter dem Eindruck der durch diese erzeugten Gegensätze, seine Vorschläge zur Beseitigung der Klassenunterschiede in direkter Anknüpfung an den französischen Materialismus systematisch entwickelte.

Allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer wollen sie nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien. Wie jene wollen sie das Reich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; aber ihr Reich ist himmelweit verschieden von dem der Aufklärer. Auch die nach den Grundsätzen dieser Aufklärer eingerichtete bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht und wandert daher ebensogut in den Topf des Verwerflichen wie der Feudalismus und alle früheren Gesellschaftszustände. Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben, kommt nur daher, daß man sie nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten und der die Wahrheit erkannt hat; daß er jetzt aufgetreten, daß die Wahrheit grade jetzt erkannt worden ist, ist nicht ein aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit Notwendigkeit folgendes, unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart.

Wir sahen, wie die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die Vorbereiter der Revolution, an die Vernunft appellierten als einzige Richterin über alles, was bestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollten hergestellt, alles, was der ewigen Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahen ebenfalls, daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers. Als nun die Französische Revolution diese Vemunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den früheren Zuständen, keineswegs als absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen.

Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag hatte seine Verwirklichung gefunden in der Schreckenszeit aus der das an seiner eignen politischen Befähigung irre gewordne Bürgertum sich geflüchtet hatte zuerst in die Korruption des Direktoriums und schließlich unter den Schutz des napoleonischen Despotismus. Der verheißne ewige Friede war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. Die Vernunftgesellschaft war nicht besser gefahren. Der Gegensatz von reich und arm, statt sich aufzulösen in allgemeinen Wohlergehn, war verschärft worden durch die Beseitigung der ihn überbrückenden zünftigen und andren Privilegien und der ihn mildernden kirchlichen Wohltätigkeitsanstalten; die jetzt zur Wahrheit gewordne »Freiheit des Eigentums« von feudalen Fesseln stellte sich heraus, für den Kleinbürger und Kleinbauern, als die Freiheit, dies von der übermächtigen Konkurrenz des Großkapitals und des Großgrundbesitzes erdrückte kleine Eigentum an eben diese großen Herren zu verkaufen und so für den Kleinbürger und Kleinbauern sich zu verwandeln in die Freiheit vom Eigentum; der Aufschwung der Industrie auf kapitalistischer Grundlage erhob Armut und Elend der arbeitenden Massen zu einer Lebensbedingung der Gesellschaft.

Die bare Zahlung wurde mehr und mehr, nach Carlyles Ausdruck, das einzige Bindeglied der Gesellschaft. Die Zahl der Verbrechen nahm zu von Jahr zu Jahr. Waren die früher am hellen Tage sich ungescheut ergehenden feudalen Laster zwar nicht vernichtet, so doch vorläufig in den Hintergrund gedrängt, so schossen dafür die, bisher nur in der Stille gehegten, bürgerlichen Laster um so üppiger in die Blüte. Der Handel entwickelte sich mehr und mehr zur Prellerei. Die »Brüderlichkeit«, der revolutionären Devise verwirklichte sich in den Schikanen und dem Neid des Konkurrenzkampfs. An die Stelle der gewaltsamen Unterdrückung trat die Korruption, an die Stelle des Degens, als des ersten gesellschaftlichen Machthebels, das Geld. Das Recht der ersten Nacht ging über von den Feudalherren auf die bürgerlichen Fabrikanten. Die Prostitution breitete sich aus in bisher unerhörtem Maß. Die Ehe selbst blieb nach wie vor gesetzlich anerkannte Form, offizieller Deckmantel der Prostitution, und ergänzte sich zudem durch reichlichen Ehebruch.

Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den »Sieg der Vernunft« hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder. Es fehlten nur noch die Leute, die diese Enttäuschung konstatierten, und diese kamen mit der Wende des Jahrhunderts. 1802 erschienen Saint-Simons Genfer Briefe; 1808 erschien Fouriers erstes Werk, obwohl die Grundlage seiner Theorie schon von 1799 datierte; am 1. Januar 1800 übernahm Robert Owen die Leitung von New Lanark.

Um diese Zeit aber war die kapitalistische Produktionsweise, und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, noch sehr unentwickelt. Die große Industrie, in England eben erst entstanden, war in Frankreich noch unbekannt. Aber erst die große Industrie entwickelt einerseits die Konflikte, die eine Umwälzung der Produktionsweise, eine Beseitigung ihres kapitalistischen Charakters, zur zwingenden Notwendigkeit erheben – Konflikte nicht nur der von ihr erzeugten Klassen, sondern auch der von ihr geschaffnen Produktivkräfte und Austauschfonnen selbst -; und sie entwickelt andrerseits in eben diesen riesigen Produktivkräften auch die Mittel, diese Konflikte zu lösen. Waren also um 1800 die der neuen Gesellschaftsordnung entspringenden Konflikte erst im Werden begriffen, so gilt dies noch weit mehr von den Mitteln ihrer Lösung. Hatten die besitzlosen Massen von Paris während der Schreckenszeit einen Augenblick die Herrschaft erobern und dadurch die bürgerliche Revolution, selbst gegen das Bürgertum, zum Siege führen können, so hatten sie damit nur bewiesen, wie unmöglich ihre Herrschaft unter den damaligen Verhältnissen auf die Dauer war. Das sich aus diesen besitzlosen Massen eben erst als Stamm einer neuen Klasse absondernde Proletariat, noch ganz unfähig zu selbständiger politischer Aktion, stellte sich dar als unterdrückter, leidender Stand, dem in seiner Unfähigkeit, sich selbst zu helfen, höchstens von außen her, von oben herab Hülfe zu bringen war.

Diese geschichtliche Lage beherrschte auch die Stifter des Sozialismus. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.

Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser, jetzt ganz der Vergangenheit angehörigen Seite keinen Augenblick länger auf. Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben und die Überlegenheit ihrer eignen nüchternen Denkungsart geltend zu machen gegenüber solchem »Wahnwitz«. Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen und für die jene Philister blind sind.

Saint-Simon war ein Sohn der großen ranzösischen Revolution, bei deren Ausbruch er noch nicht dreißig Jahre alt war. Die Revolution war der Sieg,des dritten Standes, d. h. der großen, in der Produktion und im Handel tätigen Masse der Nation, über die bis dahin bevorrechteten müßigen Stände, Adel und Geistlichkeit. Aber der Sieg des dritten Standes hatte sich bald enthüllt als der ausschließliche Sieg eines kleinen Teils dieses Standes, als die Eroberung der politischen Macht durch die gesellschaftlich bevorrechtete Schicht desselben, die, besitzende Bourgeoisie. Und zwar hatte sich diese Bourgeoisie noch während der Revolution rasch entwickelt vermittelst der Spekulation in dem konfiszierten und dann verkauften Grundbesitz des Adels und der Kirche sowie vermittelst des Betrugs an der Nation durch die Armeelieferanten. Es war gerade die Herrschaft dieser Schwindler, die unter dem Direktorium Frankreich und die Revolution an den Rand des Untergangs brachte und damit Napoleon den Vorwand gab zu seinem Staatsstreich. So nahm im Kopf Saint-Simons der Gegensatz von drittem Stand und bevorrechteten Ständen die Form an des Gegensatzes von »Arbeitern« und »Müßigen«. Die Müßigen, das waren nicht nur die alten Bevorrechteten, sondern auch alle, die ohne Beteiligung an Produktion und Handel von Renten lebten. Und die »Arbeiter«, das waren nicht nur die Lohnarbeiter, sondern auch die Fabrikanten, die Kaufleute, die Bankiers. Daß die Müßigen die Fähigkeit zur geistigen Leitung und politischen Herrschaft verloren, stand fest und war durch die Revolution endgültig besiegelt. Daß die Besitzlosen diese Fähigkeit nicht besaßen, das schien Saint-Simon bewiesen durch die Erfahrungen der Schreckenszeit. Wer aber sollte leiten und herrschen? Nach Saint-Simon die Wissenschaft und die Industrie, beide zusammengehalten durch ein neues religiöses Band, bestimmt, die seit der Reformation gesprengte Einheit der religiösen Anschauungen wiederherzustellen, ein notwendig mystisches und streng hierarchisches »neues Christentum«.

Aber die Wissenschaft, das waren die Schulgelehrten, und die Industrie, das waren in erster Linie die aktiven Bourgeois, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers. Diese Bourgeois sollten sich zwar in eine Art öffentlicher Beamten, gesellschaftlicher Vertrauensleute, verwandeln, aber doch gegenüber den Arbeitern eine gebietende und auch ökonomisch bevorzugte Stellung behalten. Namentlich sollten die Bankiers durch Regulierung des Kredits die gesamte gesellschaftliche Produktion zu regeln berufen sein. Diese Auffassung entsprach ganz einer Zeit, wo in Frankreich die große Industrie und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat eben erst im Entstehn war. Aber was Saint-Simon besonders betont, ist dies: Es sei ihm überall und immer zuerst zu tun um das Geschick »der zahlreichsten und ärmsten Klasse« (la classe la plus nombreuse et la plus pauvre).

Saint-Simon stellt bereits in seinen Genfer Briefen den Satz auf, daß »alle Menschen arbeiten sollen«. In derselben Schrift weiß er schon, daß die Schreckensherrschaft die Herrschaft der besitzlosen Massen war. »Seht an«, ruft er ihnen zu, »was sich in Frankreich ereignet hat zu der Zeit, als eure Kameraden dort geherrscht, sie haben die Hungersnot erzeugt.«

Die Französische Revolution aber als einen Klassenkampf, und zwar nicht bloß zwischen Adel und Bürgertum, sondern zwischen Adel, Bürgertum und Besitzlosen aufzufassen, war im Jahr 1802 eine höchst geniale Entdeckung. 1816 erklärt er die Politik für die Wissenschaft von der Produktion und sagt voraus das gänzliche Aufgehn der Politik in der Ökonomie. Wenn hierin die Erkenntnis, daß die ökonomische Lage die Basis der politischen Einrichtungen ist, nur erst im Keime sich zeigt, so ist doch die Überführung der politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen und eine Leitung von Produktionsprozessen, also die neuerdings mit so viel Lärm breitgetretne »Abschaffung des Staates« hier schon klar ausgesprochen. Mit gleicher Überlegenheit über seine Zeitgenossen proklamiert er 1814, unmittelbar nach dem Einzug der Verbündeten in Paris, und noch 1815, während des Kriegs der hundert Tage, die Allianz Frankreichs mit England und in zweiter Linie beider Länder mit Deutschland als einzige Gewähr für die gedeihliche Entwicklung und den Frieden Europas. Allianz den Franzosen von 1815 predigen mit den Siegern von Waterloo, dazu gehörte in der Tat ebensoviel Mut wie geschichtlicher Fernblick.

Wenn wir bei Saint-Simon eine geniale Weite des Blicks entdecken, vermöge deren fast alle nicht streng ökonomischen Gedanken der späteren Sozialisten bei ihm im Keime enthalten sind, so finden wir bei Fourier eine echt französisch-geistreiche, aber darum nicht minder tief eindringende Kritik der bestehenden Gesellschaftszustände. Fourier nimmt die Bourgeoisie, ihre begeisterten Propheten von vor und ihre interessierten Lobhudler von nach der Revolution beim Wort. Er deckt die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Welt unbarmherzig auf; er hält daneben sowohl die gleißenden Versprechungen der frühern Aufklärer von der Gesellschaft, in der nur die Vernunft herrschen werde, von der alles beglückenden Zivilisation, von der grenzenlosen menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, wie auch die schönfärbenden Redensarten der gleichzeitigen Bourgeois-Ideologen; er weist nach, wie der hochtönendsten Phrase überall die erbärmlichste Wirklichkeit entspricht, und überschüttet dies rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitre Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten. Die mit dem Niedergang der Revolution emporblühende Schwindelspekulation ebenso wie die allgemeine Krämerhaftigkeit des damaligen französischen Handels schildert er ebenso meisterhaft wie ergötzlich. Noch meisterhafter ist seine Kritik der bürgerlichen Gestaltung der Geschlechtsverhältnisse und der Stellung des Weibes in der bürgerlichen Gesellschaft. Er spricht es zuerst aus, daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist.

Am großartigsten aber erscheint Fourier in seiner Auffassung der Geschichte der Gesellschaft. Er teilt ihren ganzen bisherigen Verlauf in vier Entwicklungsstufen: Wildheit, Patriarchat, Barbarei, Zivilisation, welch letztere mit der jetzt sogenannten bürgerlichen Gesellschaft, also mit der seit dem 16. Jahrhundert eingeführten Gesellschaftsordnung zusammenfällt, und weist nach, »daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt« daß die Zivilisation sich in einem »fehlerhaften Kreislauf« bewegt, in Widersprüchen, die sie stets neu erzeugt, ohne sie überwinden zu können, so daß sie stets das Gegenteil erreicht von dem, was sie erreichen will oder erlangen zu wollen vorgibt.

So daß z. B. »in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt«. Fourier, wie man sieht, handhabt die Dialektik mit derselben Meisterschaft wie sein Zeitgenosse Hegel. Mit gleicher Dialektik hebt er hervor, gegenüber dem Gerede von der unbegrenzten menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit, daß jede geschichtliche Phase ihren aufsteigenden, aber auch ihren absteigenden Ast hat, und wendet diese Anschauungsweise auch auf die Zukunft der gesamten Menschheit an. Wie Kant den künftigen Untergang der Erde in die Naturwissenschaft, führt Fourier den künftigen Untergang der Menschheit in die Geschichtsbetrachtung ein.

Während in Frankreich der Orkan der Revolution das Land ausfegte, ging in England eine stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung vor sich. Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten damit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläfrige Entwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine wahre Sturm- und Drangperiode der Produktion. Mit stets wachsender Schnelligkeit vollzog sich die Scheidung der Gesellschaft in große Kapitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt des frühern stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und Kleinhändlern eine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste Teil der Bevölkerung. Noch war die neue Produktionsweise erst im Anfang ihres aufsteigenden Asts; noch war sie die normale, regelrechte, die unter den Umständen einzig mögliche Produktionsweise. Aber schon damals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölkerung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte Lösung aller hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unterordnung, der Familie – Überarbeit besonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß massenhafte Entsittlichung der plötzlich in ganz neue Verhältnisse, vom Land in die Stadt, vom Ackerbau in die Industrie, aus stabilen in täglich wechselnde unsichere Lebensbedingungen geworfnen arbeitenden Klasse.

Da trat ein neunundzwanzigjähriger Fabrikant als Reformator auf, ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborner Lenker von Menschen wie wenige. Robert Owen hatte sich die Lehre der materialistischen Aufklärer angeeignet, daß der Charakter des Menschen das Produkt sei einerseits der angebornen Organisation und andrerseits der den Menschen während seiner Lebenszeit, besonders aber während der Entwicklungsperiode umgebenden Umstände. In der industriellen Revolution sahen die meisten seiner Standesgenossen nur Verwirrung und Chaos, gut im trüben zu fischen und sich rasch zu bereichern. Er sah in ihr die Gelegenheit, seinen Lieblingssatz in Anwendung und damit Ordnung in das Chaos zu bringen. Er hatte es schon in Manchester als Dirigent über fünfhundert Arbeiter einer Fabrik erfolgreich versucht, von 1800 bis 1829 leitete er die große Baumwollspinnerei von New Lanark in Schottland als dirigierender Associé in demselben Sinn, nur mit größrer Freiheit des Handelns und mit einem Erfolg, der ihm europäischen Ruf eintrug.

Eine allmählich auf 2.500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils stark demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in eine vollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege, Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsende Generation sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte sie hier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahr an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten 13-14 Stunden täglich arbeiten ließen, wurde in New Lanark nur 10« Stunden gearbeitet. Als eine Baumwollkrisis zu viermonatlichem Stillstand zwang, wurde den feiernden Arbeitern der volle Lohn fortbezahlt. Und dabei hatte das Etablissement seinen Wert mehr als verdoppelt und bis zuletzt den Eigentümern reichlichen Gewinn abgeworfen.

Mit alledem war Owen nicht zufrieden. Die Existenz, die er seinen Arbeitern geschaffen, war in seinen Augen noch lange keine menschenwürdige; »die Leute waren meine Sklaven«; die verhältnismäßig günstigen Umstände, in die er sie versetzt, waren noch weit entfernt davon, eine allseitige rationelle Entwicklung des Charakters und des Verstandes, geschweige eine freie Lebenstätigkeit zu gestatten.

»Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2.500 Menschen ebensoviel wirklichen Reichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerung von 600.000 erzeugen konnte. Ich frug mich: Was wird aus der Differenz zwischen dem von 2.500 Personen verzehrten Reichturn und demjenigen, den die 600.000 hätten verzehren müssen?«

Die Antwort war klar. Er war verwandt worden, um den Besitzern des Etablissements 5 % Zinsen vom Anlagekapital und außerdem noch mehr als 300.000 Pfd.St. (6.000.000 M.) Gewinn abzuwerfen. Und was von New Lanark, galt in noch höherem Maß von allen Fabriken Englands.

»Ohne diesen neuen, durch die Maschinen geschaffnen Reichtum hätten die Kriege zum Sturz Napoleons und zur Aufrechterhaltung der aristokratischen Gesellschaftsprinzipien nicht durchgeführt werden können. Und doch war diese neue Macht die Schöpfung der arbeitenden Klasse.« [2]

Ihr gehörten daher auch die Früchte. Die neuen gewaltigen Produktivkräfte, bisher nur der Bereicherung einzelner und der Knechtung der Massen dienend, boten für Owen die Grundlage zu einer gesellschaftlichen Neubildung und waren dazu bestimmt, als gemeinsames Eigentum aller nur für die gemeinsame Wohlfahrt aller zu arbeiten.

Auf solche rein geschäftsmäßige Weise, als Frucht sozusagen der kaufmännischen Berechnung, entstand der Owensche Kommunismus. Denselben auf das Praktische gerichteten Charakter behält er durchweg. So schlug Owen 1823 Hebung des irischen Elends durch kommunistische Kolonien vor und legte vollständige Berechnungen, über Anlagekosten, jährliche Auslagen und voraussichtliche Erträge bei. So ist in seinem definitiven Zukunftsplan die technische Ausarbeitung der Einzelheiten, einschließlich Grundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive, mit solcher Sachkenntnis durchgeführt, daß, die Owensche Methode der Gesellschaftsreform einmal zugegeben, sich gegen die Detaileinrichtung selbst vom fachmännischen Standpunkt nur wenig sagen läßt.

Der Fortschritt zum Kommunismus war der Wendepunkt in Owens Leben. Solange er als bloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre und Ruhm. Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen, auch Staatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu. Als er aber mit seinen kommunistischen Theorien hervortrat, wendete sich das Blatt. Drei große Hindernisse waren es, die ihm vor allem den Weg zur gesellschaftlichen Reform zu versperren schienen: das Privateigentum, die Religion und die gegenwärtige Form der Ehe. Er wußte, was ihm bevorstand, wenn er sie angriff: die allgemeine Ächtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seiner ganzen sozialen Stellung. Aber er ließ sich nicht abhalten, sie rücksichtslos anzugreifen, und es geschah, wie er vorhergesehn. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verarmt durch fehlgeschlagne kommunistische Versuche in Amerika, in denen er sein ganzes Vermögen geopfert, wandte er sich direkt an die Arbeiterklasse und blieb in ihrer Mitte noch dreißig Jahre tätig.

Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen. So setzte er 1819, nach fünfjähriger Anstrengung, das erste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. So präsidierte er dem ersten Kongreß, auf dem die Trades Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenössenschaft vereinigten. So führte er als Übergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschaft einerseits die Kooperativgesellschaften ein (Konsum- und Produktivgenossenschaften), die seitdem wenigstens den praktischen Beweis geliefert haben, daß sowohl der Kaufmann wie der Fabrikant sehr entbehrliche Personen sind; andrerseits die Arbeitsbasars, Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten vermittelst eines Arbeitspapiergelds, dessen Einheit die Arbeitsstunde bildete; Anstalten, die notwendig scheitern mußten, die aber die weit spätere Proudhonsche Tauschbank vollständig antizipierten, sich indes grade dadurch von dieser unterschieden, daß sie nicht das Universalheilmittel aller gesellschaftlichen Übel, sondern nur einen ersten Schritt zu einer weit radikalem Umgestaltung der Gesellschaft darstellten.

Die Anschauungsweise der Utopisten hat die sozialistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts lange beherrscht und beherrscht sie zum Teil noch. Ihr huldigten noch bis vor ganz kurzer Zeit alle französischen und englischen Sozialisten, ihr gehört auch der frühere deutsche Kommunismus mit Einschluß Weitlings an. Der Sozialismus ist ihnen allen der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig ist von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung, so ist es bloßer Zufall, wann und wo sie entdeckt wird. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernwift und Gerechtigkeit wieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei jedem die besondre Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand, seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesem Konflikt absoluter Wahrheiten keine andre Lösung möglich, als daß sie sich aneinander abschleißen. Dabei konnte dann nichts andres herauskommen als eine Art von eklektischem Durchschnitts-Sozialismus, wie er in der Tat bis heute in den Köpfen der meisten sozialistischen Arbeiter in Frankreich und England herrscht, eine äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende Mischung aus den weniger Anstoß erregenden kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiednen Sektenstifter, eine Mischung, die sich um so leichter bewerkstelligt, je mehr den einzelnen Bestandteilen im Strom der Debatte die scharfen Ecken der Bestimmtheit abgeschliffen sind wie runden Kieseln im Bach. Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden.

II.

Inzwischen war neben und nach der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts die neuere deutsche Philosophie entstanden und hatte in Hegel ihren Abschluß gefunden. Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens. Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsige Dialektiker, und der universellste Kopf unter ihnen, Aristoteles, hat auch bereits die wesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht. Die neuere Philosophie dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (z. B. Descartes und Spinoza), war besonders durch englischen Einfluß mehr und mehr in der sog. metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18. Jahrhunderts, wenigstens in ihren speziell philosophischen Arbeiten, fast ausschließlich beherrscht wurden. Außerhalb der eigentlichen Philosophie waren sie ebenfalls imstande, Meisterwerke der Dialektik zu liefern; wir erinnern nur an »Rameaus Neffen« von Diderot und die »Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen« von Rousseau. Wir geben hier kurz das Wesentliche beider Denkmethoden an.

Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zusammenhänge, als auf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und solange wir diese nicht kennen, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar. Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. Dies ist zunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeit einen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material dafür zusammenschleppen mußten. Erst nachdem der natürliche und geschichtliche Stoff bis auf einen gewissen Grad angesammelt ist, kann die kritische Sichtung, die Vergleichung beziehungsweise die Einteilung in Klassen, Ordnungen und Arten in Angriff genommen werden. Die Anfänge der exakten Naturforschung werden daher erst bei den Griechen der alexandrinischen Periode und später, im Mittelalter, von den Arabern weiterentwickelt; eine wirkliche Naturwissenschaft datiert indes erst von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, und von da an hat sie mit stets wachsender Geschwindigkeit Fortschritte gemacht. Die Zerlegung der Natur in ihre einzelnen Teile, die Sonderung der verschiednen Naturvorgänge und Naturgegenstände in bestimmte Klassen, die Untersuchung des Innern der organischen Körper nach ihren mannigfachen anatomischen Gestaltungen war die Grundbedingung der Riesenfortschritte, die die letzten vierhundert Jahre uns in der Erkenntnis der Natur gebracht. Aber sie hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand; nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände; nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod. Und indem, wie dies durch Bacon und Locke geschah, diese Anschauungsweise aus der Naturwissenschaft sich in die Philosophie übertrug, schuf sie die spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte, die metaphysische Denkweise.

Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen; seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: Ein Ding kann ebensowenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zueinander. Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußerst einleuchtend, weil sie diejenige des sogenannten gesunden Menschenverstands ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstands ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar notwendig ist, stößt doch jedesmal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, borniert, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehn, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergißt, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Für alltägliche Fälle wissen wir z. B. und können mit Bestimmtheit sagen, ob ein Tier existiert oder nicht; bei genauerer Untersuchung finden wir aber, daß dies manchmal eine höchst verwickelte Sache ist, wie das die Juristen sehr gut wissen, die sich umsonst abgeplagt haben, eine rationelle Grenze zu entdecken, von der an die Tötung des Kindes im Mutterleibe Mord ist; und ebenso unmöglich ist es, den Moment des Todes festzustellen, indem die Physiologie nachweist, daß der Tod nicht ein einmaliges, augenblickliches Ereignis, sondern ein sehr langwieriger Vorgang ist. Ebenso ist jedes organische Wesen in jedem Augenblick dasselbe und nicht dasselbe; in jedem Augenblick verarbeitet es von außen zugeführte Stoffe und scheidet andre aus, in jedem Augenblick sterben Zellen seines Körpers ab und bilden sich neue; je nach einer längern oder kürzern Zeit ist der Stoff dieses Körpers vollständig erneuert, durch andre Stoffatome ersetzt worden, so daß jedes organisierte Wesen stets dasselbe und doch ein andres ist. Auch finden wir bei genaurer Betrachtung, daß die beiden Pole eines Gegensatzes, wie positiv und negativ, ebenso untrennbar voneinander wie entgegengesetzt sind und daß sie trotz aller Gegensätzlichkeit'sich gegenseitig durchdringen; ebenso, daß Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stelle wechseln, das, was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt.

Alle diese Vorgänge und Denkmethoden passen nicht in den Rahmen des metaphysischen Denkens hinein. Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen ebensoviel Bestätigungen ihrer eignen Verfahrungsweise. Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täglich häufendes Material, geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht, daß sie sich nicht im ewigen Einerlei eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte durchmacht. Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist. Da aber die Naturforscher bis jetzt zu zählen sind, die dialektisch zu denken gelernt haben, so erklärt sich aus diesem Konflikt der entdeckten Resultate mit der hergebrachten Denkweise die grenzenlose Verwirrung, die jetzt in der theoretischen Naturwissenschaft herrscht und die Lehrer wie Schüler, Schriftsteller wie Leser zur Verzweiflung bringt.

Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. Und in diesem Sinne trat die neuere deutsche Philosophie auch sofort auf. Kant eröffnete seine Laufbahn damit, daß er das stabile Newtonsche Sonnensystem und seine – nachdem der famose erste Anstoß einmal gegeben – ewige Dauer auflöste in einen geschichtlichen Vorgang: in die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse. Dabei zog er bereits die Folgerung, daß mit dieser Entstehung ebenfalls der künftige Untergang des Sonnensystems notwendig gegeben sei. Seine Ansicht wurde ein halbes Jahrhundert später durch Laplace mathematisch begründet, und noch ein halbes Jahr hundert später wies das Spektroskop die Existenz solcher glühenden Gasmassen, in verschiednen Stufen der Verdichtung, im Weltraum nach.

Ihren Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegelschen System, worin zum erstenmal – und das ist sein großes Verdienst – die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozeß, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innern Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen. Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde.

Daß das Hegelsche System die Aufgabe nicht löste, die es sich gestellt, ist hier gleichgültig. Sein epochemachendes Verdienst war, sie gestellt zu haben. Es ist eben eine Aufgabe, die kein einzelner je wird lösen können. Obwohl Hegel – neben Saint-Simon – der universellste Kopf seiner Zeit war, so war er doch beschränkt erstens durch den notwendig begrenzten Umfang seiner eignen Kenntnisse und zweitens durch die ebenfalls nach Umfang und Tiefe begrenzten Kenntnisse und Anschauungen seiner Epoche. Dazu aber kam noch ein Drittes. Hegel war Idealist, d. h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwie schon vor der Welt existierenden »Idee«. Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirkliche Zusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. Und so richtig und genial daher auch manche Einzelzusammenhänge von Hegel aufgefaßt wurden, so mußte doch aus den angegebnen Gründen auch im Detail vieles geflickt, gekünstelt, konstruiert, kurz, verkehrt ausfallen. Das Hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt – aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem innern unheilbaren Widerspruch: einerseits hatte es zur wesentlichen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Entwicklungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten absoluten Wahrheit seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenfortschritte machen kann.

Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialismus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysischen, ausschließlich mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühem Geschichte sieht der moderne Materialismus in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie noch bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich in engen Kreisläufen bewegenden, sich stets gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Weltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sie LinnÆ gelehrt hatte, faßt er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn und vergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig bleiben, unendlich großartigere Dünensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehenbleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logikund die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.

Während jedoch der Umschwung in der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehn konnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. 1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstand stattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die der englischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas, in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft. Alle diese Dinge waren nicht mehr abzuweisen, ebensowenig wie der französische und englische Sozialismus, der ihr theoretischer, wenn auch höchst unvollkommner Ausdruck war. Aber die alte idealistische Geschichtsauffassung, die noch nicht verdrängt war, kannte keine auf materiellen Interessen beruhenden Massenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alle ökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der »Kulturgeschichte« vor.

Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, daß alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort, der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnitts in letzter Instanz zu erklären sind. Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.

Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandner Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihr Widerstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffnen ökonomischen Lage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser materialistischen Auffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die von ihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstand, deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe. Es handelte sich aber darum, die kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter bloßzulegen, der noch immer verborgen war. Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; daß der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und daß dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt.

Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.

III.

Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in, Veränderungen der Produktionsund Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, daß die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, daß Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, daß in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen, zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Mißstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst – mehr oder minder entwickelt – vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken.

Wie steht es nun hiernach mit dem modernen Sozialismus?

Die bestehende Gesellschaftsordnung – das ist nun so ziemlich allgemein zugegeben – ist geschaffen worden von der jetzt herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Die der Bourgeoisie eigentümliche Produktionsweise, seit Marx mit dem Namen kapitalistische Produktionsweise bezeichnet, war unverträglich mit den lokalen und ständigen Privilegien wie mit den gegenseitigen persönlichen Banden der feudalen Ordnung; die Bourgeoisie zerschlug die feudale Ordnung und stellte auf ihren Trümmern die bürgerliche Gesellschaftsverfassung her, das Reich der freien Konkurrenz, der Freizügigkeit, der Gleichberechtigung der Warenbesitzer und wie die bürgerlichen Herrlichkeiten alle heißen. Die kapitalistische Produktionsweise konnte sich jetzt frei entfalten. Die unter der Leitung der Bourgeoisie herausgearbeiteten Produktionsverhältnisse entwickelten sich, seit der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie die alte Manufaktur in die große Industrie umgewandelt, mit bisher unerhörter Schnelligkeit und in bisher unerhörtem Maße. Aber wie ihrerzeit die Manufaktur und das unter ihrer Einwirkung weiterentwickelte Handwerk mit den feudalen Fesseln der Zünfte in Konflikt kam, so kommt die große Industrie in ihrer volleren Ausbildung in Konflikt mit den Schranken, in denen die kapitalistische Produktionsweise sie eingeengt hält. Die neuen Produktionskräfte sind der bürgerlichen Form ihrer Ausnutzung bereits über den Kopf gewachsen; und dieser Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise ist nicht ein in den Köpfen der Menschen entstandner Konflikt, wie etwa der der menschlichen Erbsünde mit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern er besteht in den Tatsachen, objektiv, außer uns, unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihn herbeigeführt. Der moderne Sozialismus ist weiter nichts als der Gedankenreflex dieses tatsächlichen Konflikts, seine ideelle Rückspiegelung in den Köpfen zunächst der Klasse, die direkt unter ihm leidet, der Arbeiterklasse.

Worin besteht nun dieser Konflikt?

Vor der kapitalistischen Produktion, also im Mittelalter, bestand allgemeiner Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln: der Ackerbau der kleinen, freien oder hörigen Bauern, das Handwerk der Städte. Die Arbeitsmittel – Land, Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug – waren Arbeitsmittel des einzelnen, nur für den Einzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft, beschränkt. Aber sie gehörten eben deshalb auch in der Regel dem Produzenten selbst. Diese zersplitterten, engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Produktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie. Wie sie dies seit dem 15. Jahrhundert auf den drei Stufen: der einfachen Kooperation, der Manufaktur und der großen Industrie, geschichtlich durchgeführt, hat Marx im vierten Abschnitt des »Kapital« ausführlich geschildert. Aber die Bourgeoisie, wie dort ebenfalls nachgewiesen, konnte jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktionskräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. An die Stelle des Spinnrads, des Handwebestuhls, des Schmiedehammers trat die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl, der Dampfhammer; an die Stelle der Einzelwerkstatt die das Zusammenwirken von Hunderten und Tausenden gebietende Fabrik. Und wie die Produktionsmittel, so verwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Produkte. Das Garn, das Gewebe, die Metallwaren, die jetzt aus der Fabrik kamen, waren das gemeinsame Produkt vieler Arbeiter, durch deren Hände sie der Reihe nach gehn mußten, ehe sie fertig wurden. Kein einzelner konnte von ihnen sagen: Das habe ich gemacht, das ist mein Produkt.

Wo aber die naturwüchsige, planlos allmählich entstandne Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft Grundforin der Produktion ist, da drückt sie den Produkten die Form von Waren auf, deren gegenseitiger Austausch, Kauf und Verkauf, die einzelnen Produzenten in den Stand setzt, ihre mannigfachen Bedürfnisse, zu befriedigen. Und dies war im Mittelalter der Fall. Der Bauer z. B. verkaufte Ackerbauprodukte an den Handwerker und kaufte dafür von diesem Handwerkserzeugnisse. In diese Gesellschaft von Einzelproduzenten, Warenproduzenten, schob sich nun die neue Produktionsweise ein. Mitten in die naturwüchsige, planlose Teilung der Arbeit, wie sie in der ganzen Gesellschaft herrschte, stellte sie die planmäßige Teilung der Arbeit, wie sie in der einzelnen Fabrik organisiert war; neben die Einzelproduktion trat die gesellschaftliche Produktion. Die Produkte beider wurden auf demselben Markt verkauft, also zu wenigstens annähernd gleichen Preisen. Aber die planmäßige Organisation war mächtiger als die naturwüchsige Arbeitsteilung; die gesellschaftlich arbeitenden Fabriken stellten ihre Erzeugnisse wohlfeiler her als die vereinzelten Kleinproduzenten. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach dem andern, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise. Aber dieser ihr revolutionärer Charakter wurde so wenig erkannt, daß sie im Gegenteil eingeführt wurde als Mittel zur Hebung und Förderung der Warenproduktion. Sie entstand in direkter Anknüpfung an bestimmte, bereits vorgefundne Hebel der Warenproduktion und des Warenaustausches: Kaufmannskapital, Handwerk, Lohnarbeit. Indem sie selbst auftrat als eine neue Form der Warenproduktion, blieben die Aneignungsformen der Warenproduktion, auch für sie in voller Geltung.

In der Warenproduktion, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatte, konnte die Frage gar nicht entstehn, wem das Erzeugnis der Arbeit gehören solle. Der einzelne Produzent hatte es, in der Regel, aus ihm gehörendem, oft selbsterzeugtem Rohstoff, mit eignen Arbeitsmitteln und mit eigner Handarbeit oder der seiner Familie hergestellt. Es brauchte gar nicht erst von ihm angeeignet zu werden, es gehörte ihm ganz von selbst. Das Eigentum am Produkte beruhte also auf eigner Arbeit. Selbst wo fremde Hülfe gebraucht ward, blieb diese in der Regel Nebensache und erhielt häufig außer dem Lohn noch andre Vergütung: Der zünftige Lehrling und Geselle arbeiteten weniger wegen der Kost und des Lohns als wegen ihrer eignen Ausbildung zur Meisterschaft. Da kam die Konzentration der Produktionsmittel in großen Werkstätten und Manufakturen, ihre Verwandlung in tatsächlich gesellschaftliche Produktionsmittel. Aber die gesellschaftlichen Produktionsmittel und Produkte wurden behandelt, als wären sie nach wie vor die Produktionsmittel und Produkte einzelner. Hatte bisher der Besitzer der Arbeitsmittel sich das Produkt angeeignet, weil es in der Regel sein eignes Produkt und fremde Hülfsarbeit die Ausnahme war, so fuhr jetzt der Besitzer der Arbeitsmittel fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt war, sondern ausschließlich Produkt fremder Arbeit. So wurden also die nunmehr gesellschaftlich erzeugten Produkte angeeignet nicht von denen, die die Produktionsmittel wirklich in Bewegung gesetzt und die Produkte wirklich erzeugt hatten, sondern vom Kapitalisten. Produktionsmittel und Produktion sind wesentlich gesellschaftlich geworden. Aber sie werden unterworfen einer Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat, wobei also jeder sein eignes Produkt besitzt und zu Markte bringt. Die Produktionsweise wird dieser Aneignungsform unterworfen, obwohl sie deren Voraussetzung aufhebt. [3] In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim. Je mehr die neue Produktionsweise auf allen entscheidenden Produktionsfeldern und in allen ökonomisch entscheidenden Ländern zur Herrschaft kam und damit die Einzelproduktion bis auf unbedeutende Reste verdrängte, desto greller mußte auch an den Tag treten die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung.

Die ersten Kapitalisten fanden, wie gesagt, die Form der Lohnarbeit bereits vor. Aber Lohnarbeit als Ausnahme, als Nebenbeschäftigung, als Aushülfe, als Durchgangspunkt. Der Landarbeiter, der zeitweise taglöhnern ging, hatte seine paar Morgen eignes Land, von denen allein er zur Not leben konnte. Die Zunftordnungen sorgten dafür, daß der Geselle von heute in den Meister von morgen überging. Sobald aber die Produktionsmittel in gesellschaftliche verwandelt und in den Händen von Kapitalisten konzentriert wurden, änderte sich dies. Das Produktionsmittel wie das Produkt des kleinen Einzelproduzenten wurde mehr und mehr wertlos; es blieb ihm nichts übrig, als zum Kapitalisten auf Lohn zu gehn. Die Lohnarbeit, früher Ausnahme und Aushülfe, wurde Regel und Grundform der ganzen Produktion; früher Nebenbeschäftigung, wurde sie jetzt ausschließliche Tätigkeit des Arbeiters. Der zeitweilige Lohnarbeiter verwandelte sich in den lebenslänglichen. Die Menge der lebenslänglichen Lohnarbeiter wurde zudem kolossal vermehrt durch den gleichzeitigen Zusammenbruch der feudalen Ordnung, Auflösung der Gefolgschaften der Feudalherren, Vertreibung von Bauern aus ihren Hofstellen etc. Die Scheidung war vollzogen zwischen den in den Händen der Kapitalisten konzentrierten Produktionsmitteln hier und den auf den Besitz von nichts als ihrer Arbeitskraft reduzierten Produzenten dort. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung tritt an den Tag als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.

Wir sahen, daß die kapitalistische Produktionsweise sich einschob in eine Gesellschaft von Warenproduzenten, Einzelproduzenten, deren gesellschaftlicher Zusammenhang vermittelt wurde durch den Austausch ihrer Produkte. Aber jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, daß in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eignen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben. je er produziert für sich mit seinen zufälligen Produktionsmitteln und für sein besondres Austauschbedürfnis. Keiner weiß, wieviel von seinem Artikel auf den Markt kommt, wieviel davon überhaupt gebraucht wird, keiner weiß, ob sein Einzelprodukt einen wirklichen Bedarf vorfindet, ob er seine Kosten herausschlagen oder überhaupt wird verkaufen können. Es herrscht Anarchie der gesellschaftlichen Produktion. Aber die Warenproduktion, wie jede andere Produktionsform, hat ihre eigentümlichen, inhärenten, von ihr untrennbaren Gesetze; und diese Gesetze setzen sich durch, trotz der Anarchie, in ihr, durch sie. Sie kommen zum Vorschein in der einzigen, fortbestehenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs, im Austausch, und machen sich geltend gegenüber den einzelnen Produzenten als Zwangsgesetze der Konkurrenz. Sie sind diesen Produzenten also anfangs selbst unbekannt und müssen erst durch lange Erfahrung nach und nach von ihnen entdeckt werden. Sie setzen sich also durch, ohne die Produzenten und gegen die Produzenten, als blindwirkende Naturgesetze ihrer Produktionsform. Das Produkt beherrscht die Produzenten.

In der mittelalterlichen Gesellschaft, namentlich in den ersten Jahrhunderten, war die Produktion wesentlich auf den Selbstgebrauch gerichtet. Sie befriedigte vorwiegend nur die Bedürfnisse des Produzenten und seiner Familie. Wo, wie auf dem Lande, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse bestanden, trug sie auch bei zur Befriedigung der Bedürfnisse des Feudalherrn. Hierbei fand also kein Austausch statt, die Produkte nahmen daher auch nicht den Charakter von Waren an. Die Familie des Bauern produzierte fast alles, was sie brauchte, Geräte und Kleider nicht minder als Lebensmittel. Erst als sie dahin kam, einen Oberschuß über ihren eignen Bedarf und über die dem Feudalherrn geschuldeten Naturalabgaben zu produzieren, erst da produzierte sie auch Waren; dieser Überschuß, in den gesellschaftlichen Austausch geworfen, zum Verkauf ausgeboten, wurde Ware. Die städtischen Handwerker mußten allerdings schon gleich anfangs für den Austausch produzieren. Aber auch sie erarbeiteten den größten Teil ihres Eigenbedarfs selbst; sie hatten Gärten und kleine Felder; sie schickten ihr Vieh in den Gemeindewald, der ihnen zudem Nutzholz und Feuerung lieferte, die Frauen spannen Flachs, Wolle usw. Die Produktion zum Zweck des Austausches, die Warenproduktion, war erst im Entstehn. Daher beschränkter Austausch, beschränkter Markt, stabile Produktionsweise, lokaler Abschluß nach außen, lokale Vereinigung nach innen; die Mark« auf dem Lande, die Zunft in der Stadt.

Mit der Erweiterung der Warenproduktion aber, und namentlich mit dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, traten auch die bisher schlummernden Gesetze der Warenproduktion offner und mächtiger in Wirksamkeit. Die alten Verbände wurden gelockert, die alten Abschließungsschranken durchbrochen, die Produzenten mehr und mehr in unabhängige, vereinzelte Warenproduzenten verwandelt. Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion trat an den Tag und wurde mehr und mehr auf die Spitze getrieben. Das Hauptwerkzeug aber, womit die kapitalistische Produktionsweise diese Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion steigerte, war das gerade Gegenteil der Anarchie: die steigende Organisation der Produktion, als gesellschaftlicher, in jedem einzelnen Produktionsetablissement. Mit diesem Hebel machte sie der alten friedlichen Stabilität ein Ende. Wo sie in einem Industriezweig eingeführt wurde, litt sie keine ältre Methode des Betriebs neben sich. Wo sie sich des Handwerks bemächtigte, vernichtete sie das alte Handwerk. Das Arbeitsfeld wurde ein Kampfplatz. Die großen geographischen Entdeckungen und die ihnen folgenden Kolonisierungen vervielfältigten das Absatzgebiet und beschleunigten die Verwandlung des Handwerks in die Manufaktur. Nicht nur brach der Kampf aus zwischen den einzelnen Lokalproduzenten; die lokalen Kämpfe wuchsen ihrerseits an zu nationalen, den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die große Industrie endlich und die Herstellung des Weltmarkts haben den Kampf universell gemacht und gleichzeitig ihm eine unerhörte Heftigkeit gegeben. Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffnen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Naturmit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich nun dar als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft.

In diesen beiden Erscheinungsformen des ihr durch ihren Ursprung immanenten Widerspruchs bewegt sich die kapitalistische Produktionsweise, beschreibt sie auswegslos jenen »fehlerhaften Kreislauf«, den schon Fourier an ihr entdeckte. Was Fourier allerdings zu seiner Zeit noch nicht sehn konnte, ist, daß sich dieser Kreislauf allmählich verengert, daß die Bewegung vielmehr eine Spirale darstellt und ihr Ende erreichen muß, wie die der Planeten, durch Zusammenstoß mit dem Zentrum. Es ist die treibende Kraft der gesellschaftlichen Anarchie der Produktion, die die große Mehrzahl der Menschen mehr und mehr in Proletarier verwandelt, und es sind wieder die Proletariermassen, die schließlich der Produktionsanarchie ein Ende machen werden. Es ist die treibende Kraft der sozialen Produktionsanarchie, die die unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Maschinen der großen Industrie in ein Zwangsgebot verwandelt für, jeden einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie mehr und mehr zu vervollkommnen, bei Strafe des Untergangs.

Aber Vervollkommnung der Maschinerie, das heißt Überflüssigmachung von Menschenarbeit. Wenn die Einführung und Vermehrung der Maschinerie Verdrängung von Millionen von Handarbeitern durch wenige Maschinenarbeiter bedeutet, so bedeutet Verbesserung der Maschinerie Verdrängung von mehr und mehr Maschinenarbeitern selbst und in letzter Instanz Erzeugung einer das durchschnittliche Beschäftigungsbedürfnis des Kapitals überschreitenden Anzahl disponibler Lohnarbeiter, einer vollständigen industriellen Reservearmee, wie ich sie schon 1845 [4] nannte, disponibel für die Zeiten, wo die Industrie mit Hochdruck arbeitet, aufs Pflaster geworfen durch den notwendig folgenden Krach, zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den Füßen, der Arbeiterklasse in ihrem Existenzkampf mit dem Kapital, ein Regulator zur Niederhaltung des Arbeitslohns auf dem dem kapitalistischen Bedürfnis angemeßnen niedrigen Niveau. So geht es zu, daß die Maschinerie, um mit Marx zu reden, das machtvollste Kriegsmittel des Kapitals gegen die Arbeiterklasse wird, daß das Arbeitsmittel dem Arbeiter fortwährend das Lebensmittel aus der Hand schlägt, daß das eigne Produkt des Arbeiters sich verwandelt in ein Werkzeug zur Knechtung des Arbeiters. So kommt es, daß die Ökonomisierung der Arbeitsmittel von vornherein zugleich rücksichtsloseste Verschwendung der Arbeitskraft und Raub an den normalen Voraussetzungen der Arbeitsfunktion wird; daß die Maschinerie, das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit, umschlägt in das unfehlbarste Mittel, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln; so kommt es, daß die Überarbeitung der einen die Voraussetzung wird für die Beschäftigungslosigkeit der andern und daß die große Industrie, die den ganzen Erdkreis nach neuen Konsumenten abjagt, zu Hause die Konsumtion der Massen auf ein Hungerminimum beschränkt und sich damit den eignen innern Markt untergräbt.

»Das Gesetz, welches die relative Surpluspopulation oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Kapitalakkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Bestialisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.« (Marx, »Kapital«, S. 671.) Und von der kapitalistischen Produktionsweise eine, andre Verteilung der Produkte erwarten hieße verlangen, die Elektroden einer Batterie sollten das Wasser unzersetzt lassen, solange sie mit der Batterie in Verbindung stehn, und nicht am positiven Pol Sauerstoff entwickeln und am negativen Wasserstoff.

Wir sahen, wie die aufs höchste gesteigerte Verbesserungsfähigkeit der modernen Maschinerie, vermittelst der Anarchie der Produktion in der Gesellschaft, sich verwandelt in ein Zwangsgebot für den einzelnen industriellen Kapitalisten, seine Maschinerie stets zu verbessern, ihre Produktionskraft stets zu erhöhn. In ein ebensolches Zwangsgebot verwandelt sich für ihn die bloße faktische Möglichkeit, seinen Produktionsbereich zu erweitern. Die enorme Ausdehnungskraft der großen Industrie, gegen die diejenige der Gase ein wahres Kinderspiel ist, tritt uns jetzt vor die Augen als ein qualitatives und quantitatives Ausdehnungsbedürfnis, das jedes Gegendrucks spottet. Der Gegendruck wird gebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der großen Industrie. Aber die Ausdehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wird beherrscht zunächst durch ganz andre, weit weniger energisch wirkende Gesetze. Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich, und da sie keine Lösung erzeugen kann, solange sie nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst sprengt, wird sie periodisch. Die kapitalistische Produktion erzeugt einen neuen »fehlerhaften Kreislauf«.

In der Tat, seit 1825, wo die erste allgemeine Krisis ausbrach, geht die ganze industrielle und kommerzielle Welt, die Produktion und der Austausch sämtlicher zivilisierten Völker und ihrer mehr oder weniger barbarischen Anhängsel, so ziemlich alle zehn Jahre einmal aus den Fugen. Der Verkehr stockt, die Märkte sind überfüllt, die Produkte liegen da, ebenso massenhaft wie unabsetzbar, das bare Geld wird unsichtbar, der Kredit verschwindet, die Fabriken stehn still, die arbeitenden Massen ermangeln der Lebensmittel, weil sie zuviel Lebensmittel produziert haben. Bankerott folgt auf Bankerott, Zwangsverkauf auf Zwangsverkauf. Jahrelang dauert die Stockung, Produktivkräfte wie Produkte werden massenhaft vergeudet und zerstört, bis die aufgehäuften Warenmassen unter größrer oder geringrer Entwertung endlich abfließen, bis Produktion und Austausch allmählich wieder in Gang kommen. Nach und nach beschleunigt sich die Gangart, fällt in Trab, der industrielle Trab geht über in Galopp, und dieser steigert sich wieder bis zur zügellosen Karriere einer vollständigen industriellen, kommerziellen, kreditlichen und spekulativen Steeple-chase, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen im Graben des Krachs. Und so immer von neuem. Das haben wir nun seit 1825 volle fünfmal erlebt und erleben es in diesem Augenblick (1877) zum sechsten Mal. Und der Charakter dieser Krisen ist so scharf ausgeprägt, daß Fourier sie alle traf, als er die erste bezeichnete als: crise pléthorique, Krisis aus Überfluß.

In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentan vernichtet: das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis; alle Gesetze der Warenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomische Kollision hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise.

Die Tatsache, daß die gesellschaftliche Organisation der Produktion innerhalb der Fabrik sich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie unverträglich geworden ist mit der neben und über ihr bestehenden Anarchie der Produktion in der Gesellschaftdiese Tatsache wird den Kapitalisten selbst handgreiflich gemacht durch die gewaltsame Konzentration der Kapitale, die sich während der Krisen vollzieht vermittelst des Ruins vieler großen und noch mehr kleiner Kapitalisten. Der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Masse von Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln; sie liegen brach, und ebendeshalb muß auch die industrielle Reservearmee brachliegen.

Produktionsmittel, Lebensmittel, disponible Arbeiter, alle Elemente der Produktion und des allgemeinen Reichtums sind im Überfluß vorhanden. Aber »der Oberfluß wird Quelle der Not und des Mangels« (Fourier), weil er es gerade ist, der die Verwandlung der Produktions- und Lebensmittel in Kapital verhindert. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft können die Produktionsmittel nicht in Tätigkeit treten, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital, in Mittel zur Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verwandelt. Wie ein Gespenst steht die Notwendigkeit der Kapitaleigenschaft der Produktions- und Lebensmittel zwischen ihnen und den Arbeitern. Sie allein verhindert das Zusammentreten der sachlichen und der persönlichen Hebel der Produktion; sie allein verbietet den Produktionsmitteln, zu fungieren, den Arbeitern, zu arbeiten und zu leben. Einesteils also wird die kapitalistische Produktionsweise ihrer eignen Unfähigkeit zur ferneren Verwaltung dieser Produktivkräfte überführt. Andrerseits drängen diese Produktivkräfte selbst mit steigender Macht nach Aufhebung des Widerspruchs, nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nach tatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als gesellschaftlicher Produktivkräfte.

Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur, der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln. Sowohl die industrielle Hochdruckperiode mit ihrer schrankenlosen Kreditaufblähung wie der Krach selbst durch den Zusammenbruch großer kapitalistischer Etablissements treiben zu derjenigen Form der Vergesellschaftung größter Massen von Produktionsmitteln, die uns in den verschiednen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt. Manche dieser Produktionsund Verkehrsmittel sind von vornherein so kolossal, daß sie, wie die Eisenbahnen, jede andere Form kapitalistischer Ausbeutung ausschließen. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr; die inländischen Großproduzenten eines und desselben Industriezweigs vereinigen sich zu einem »Trust«, einer Vereinigung zum Zweck der Regulierung der Produktion; sie bestimmen das zu produzierende Gesamtquantum, verteilen es unter sich und erzwingen so den im voraus festgesetzten Verkaufspreis. Da solche Trusts aber bei der ersten schlechten Geschäftszeit meist aus dem Leim gehn, treiben sie eben dadurch zu einer noch konzentrierteren Vergesellschaftung: Der ganze Industriezweig verwandelt sich in eine einzige große Aktiengesellschaft, die inländische Konkurrenz macht dem inländischen Monopol dieser einen Gesellschaft Platz; wie dies noch 1890 mit der englischen Alkaliproduktion geschehen, die jetzt, nach Verschmelzung sämtlicher 48 großen Fabriken, in der Hand einer einzigen, einheitlich geleiteten Gesellschaft mit einem Kapital von 120 Millionen Mark betrieben wird.

In den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft. Allerdings zunächst noch zu Nutz und Frommen der Kapitalisten. Hier aber wird die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie zusammenbrechen muß. Kein Volk würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit durch eine kleine Bande von Kuponabschneidem sich gefallen lassen.

So oder so, mit oder ohne Trusts, muß schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, die Leitung der Produktion übernehmen. [5] Diese Notwendigkeit der Verwandlung in Staatseigentum tritt zuerst hervor bei den großen Verkehrsanstalten: Post, Telegraphen, Eisenbahnen.

Wenn die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur fernern Verwaltung der modernen Produktivkräfte aufdeckten, so zeigt die Verwandlung der großen Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften, Trusts und Staatseigentum die Entbehrlichkeit der Bourgeoisie,für jenen Zweck. Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapitalisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehn. Der Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Revenueneinstreichen, Kuponsabschneiden und Spielen an der Börse, wo die verschiednen Kapitalisten untereinander sich ihr Kapital abnehmen. Hat die kapitalistische Produktionsweise zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten und verweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überflüssige Bevölkerung, wenn auch zunächst noch nicht in die industrielle Reservearmee.

Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trusts liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigenturn übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigenturn an den Produktivkräften ist nicht Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung.

Diese Lösung kann nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel. Und dies kann nur dadurch geschehn, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder andren Leitung außer der ihrigen entwachsenen Produktivkräften. Damit wird der gesellschaftliche Charakter der Produktionsmittel und Produkte, der sich heute gegen die Produzenten selbst kehrt, der die Produktions- und Austauschweise periodisch durchbricht und sich nur als blind wirkendes Naturgesetz gewalttätig und zerstörend durchsetzt, von den Produzenten mit vollem Bewußtsein zur Geltung gebracht und verwandelt sich aus einer Ursache der Störung und des periodischen Zusammenbruchs in den mächtigsten Hebel der Produktion selbst.

Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen. Und ganz besonders gilt dies von den heutigen gewaltigen Produktivkräften. Solange wir uns hartnäckig weigern, ihre Natur und ihren Charakter zu verstehn – und gegen dies Verständnis sträubt sich die kapitalistische Produktionsweise und ihre Verteidiger -, solange wirken diese Kräfte sich aus, trotz uns, gegen uns, solange beherrschen sie uns, wie wir das ausführlich dargestellt haben. Aber einmal in ihrer Natur begriffen, können sie in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden. Es ist der Unterschied zwischen der zerstörenden Gewalt der Elektrizität im Blitze des Gewitters und der gebändigten Elektrizität des Telegraphen und des Lichtbogens; der Unterschied der Feuersbrunst und des im Dienst des Menschen wirkenden Feuers. Mit dieser Behandlung der heutigen Produktivkräfte nach ihrer endlich erkannten Natur tritt an die Stelle der gesellschaftlichen Produktionsanarchie eine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen. Damit wird die kapitalistische Aneignungsweise, in der das Produkt zuerst den Produzenten, dann aber auch den Aneigner knechtet, ersetzt durch die in der Natur der modernen Produktionsmittel selbst begründete Aneignungsweise der Produkte: einerseits direkt gesellschaftliche Aneignung als Mittel zur Erhaltung und Erweiterung der Produktion, andrerseits direkt individuelle Aneignung als Lebens- und Genußmittel.

Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, bei Strafe des Untergangs, zu vollziehn genötigt ist. Indem sie mehr und mehr auf Verwandlung der großen vergesellschafteten Produktionsmittel in Staatseigentum drängt, zeigt sie selbst den Weg an zur Vollziehung der Umwälzung. Das Rroletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewegende Gesellschaft hatte den Staat nötig, d. h. eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechterhaltung ihrer äußern Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse in den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedingungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einer sichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter des Feudaladels, in unsrer Zeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. Dererste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle,der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab. Hieran ist die Phrase vom »freien Volksstaat« zu messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit; hieran ebenfalls die Forderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden.

Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die tatsächlichen Bedingungen ihrer Durch vorhanden waren. Sie, wie jeder andre gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klassen abzuschaffen, sondern durch gewisse neue ökonomische Bedingungen. Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der früheren geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich diese Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben der ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, die die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste usw. Es ist also das Gesetz der Arbeitstellung, das der Klassenteilung zugrunde liegt. Aber das hindert nicht, daß diese Einteilung in Klassen nicht durch Gewalt und Raub, List und Betrug durchgesetzt worden und daß die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die gesellschaftliche Leitung umzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Massen.

Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte. Und in der Tat hat die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen zur Voraussetzung einen geschichtlichen Entwicklungsgrad, auf dem das Bestehn nicht bloß dieser oder jener bestimmten herrschenden Klasse, sondern einer herrschenden Klasse überhaupt, also des Klassenunterschieds selbst, ein Anachronismus geworden, veraltet ist. Sie hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ist der politische und intellektuelle Bankerott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankerott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaft unter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte und steht hülflos vor dem absurden Widerspruch, daß die Produzenten nichts zu konsumieren haben, weil es an Konsumenten fehlt. Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt die Bande, die die kapitalistische Produktionsweise ihr angelegt. Ihre Befreiung aus diesen Banden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochnen, stets rascher fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst. Damit nicht genug. Die gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel beseitigt nicht nur die jetzt bestehende künstliche Hemmung der Produktion, sondern auch die positive Vergeudung und Verheerung von Produktivkräften und Produkten, die gegenwärtig die unvermeidliche Begleiterin der Produktion ist und ihren Höhepunkt in den Krisen erreicht. Sie setzt ferner eine Masse von Produktionsmitteln und Produkten für die Gesamtheit frei durch Beseitigung der blödsinnigen Luxusverschwendung der jetzt herrschenden Klassen und ihrer politischen Repräsentanten. Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaftlichen Produktion allen Gesellschaftsgliedern eine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten Male da, aber sie ist da. [6]

Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eignen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte aufgenötigt gegenüberstand, wird jetzt ihre freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.

Fassen wir zum Schluß unsern Entwicklungsgang kurz zusammen:

  1. Mittelalterliche Gesellschaft: Kleine Einzelproduktion. Produktionsmittel für den Einzelgebrauch zugeschnitten, daher urwüchsig-unbehülflich, kleinlich, von zwerghafter Wirkung. Produktion für den unmittelbaren Verbrauch, sei es des Produzenten selbst, sei es seines Feudalherrn. Nur da, wo ein Überschuß der Produktion über diesen Verbrauch stattfindet, wird dieser Überschuß zum Verkauf ausgeboten und verfällt dem Austausch: Warenproduktion also erst im Entstehn; aber schon jetzt enthält sie in sich, im Keim, die Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion.
  2. Kapitalistische Revolution: Umwandlung der Industrie zuerst vermittelst der einfachen Kooperation und der Manufaktur, Konzentration der bisher zerstreuten Produktionsmittel in großen Werkstätten, damit ihre Verwandlung aus Produktionsmittel des einzelnen in gesellschaftliche – eine Verwandlung, die die Form des Austausches im ganzen und groß en nicht berührt. Die alten Aneignungsformen bleiben in Kraft. Der Kapitalist tritt auf: In seiner Eigenschaft als Eigentümer der Produktionsmittel eignet er sich auch die Produkte an und macht sie zu Waren. Die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden; der Austausch und mit ihm die Aneignung bleiben individuelle Akte, Akte des einzelnen: Das gesellschaftliche Produkt wird angeeignet vom Einzelkapitalisten. Grundwiderspruch, aus dem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt und die die große Industrie offen an den Tag bringt.
    1. Scheidung des Produzenten von den Produktionsmitteln. Verurteilung des Arbeiters zu lebenslänglicher Lohnarbeit. Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.
    2. Wachsendes Hervortreten und steigende Wirksamkeit der Gesetze, die die Warenproduktion beherrschen. Zügelloser Konkurrenzkampf. Widerspruch der gesellschaftlichen Organisation in der einzelnen Fabrik und der gesellschaftlichen Anarchie in der Gesamtproduktion.
    3. Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten – Überfluß dort, von Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten.
    4. Teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte, den Kapitalisten selbst aufgenötigt. Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen, erst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodann durch den Staat. Die Bourgeoisie erweist sich, als überflüssige Klasse; alle ihre gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte.
  3. Proletarische Revolution, Auflösung der Widersprüche: Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt, die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorherbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedner Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.

Diese weltbefreiende Tat durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.



[A] »In Deutschland« ist ein Schreibfehler. Es muß heißen: »bei Deutschen«. Denn so unumgänglich einerseits die deutsche Dialektik war bei der Genesis des wissenschaftlichen Sozialismus, ebenso unumgänglich dabei waren die entwickelten ökonomischen und politischen Verhältnisse Englands und Frankreichs. Die, anfangs der vierziger Jahre noch weit mehr als heute, zurückgebliebne ökonomische und politische Entwicklungsstufe Deutschlands konnte höchstens sozialistische Karikaturen erzeugen (vgl. »Kommun. Manifest«, III, l. c: »Der deutsche oder ›wahre‹ Sozialismus«). Erst indem die in England und Frankreich erzeugten ökonomischen und politischen Zustände der deutsch-dialektischen Kritik unterworfen wurden, erst da konnte ein wirkliches Resultat gewonnen werden. Nach dieser Seite hin ist also der wissenschaftliche Sozialismus kein ausschließlich deutsches, sondern ebensosehr ein internationales Produkt. [Anmerkung von Engels zur dritten deutschen Auflage von 1883.]

[B] »Qual« ist ein philosophisches Wortspiel. Qual bedeutet wörtlich torture, einen Schmerz, der zu irgendeiner Tat antreibt; zugleich trägt der Mystiker Böhme in das deutsche Wort etwas von der Bedeutung des lateinischen qualitas [Eigenschaft] hinein; im Gegensatz zu einem Schmerz, der von außen zugefügt wird, war seine »Qual« das aktivierende Prinzip, das aus der spontanen Entwicklung des Dings – der Beziehung oder der Person, die dieser Qual ausgesetzt sind – entsteht und seinerseits fördernd auf die Entwicklung einwirkt.

[C] K. Marx u. F. Engels, »Die heilige Familie«, Frankfurt a. M. 1845, p. 201-204. F. E.

[D] Und selbst in Geschäftssachen ist die Aufgeblasenheit des nationalen Chauvinismus ein gar kläglicher Ratgeber. Bis ganz kürzlich hielt es der gewöhnliche englische Fabrikant für erniedrigend für einen Engländer, eine andre als seine eigne Sprache zu sprechen, und war gewissermaßen stolz darauf, daß »arme Teufel« von Ausländern sich in England niederließen und ihm die Mühe abnahmen, seine Produkte im Ausland zu vertreiben. Er merkte nicht einmal, daß diese Ausländer, meist Deutsche, dadurch einen großen Teil des englischen auswärtigen Handels in ihre Hände bekamen – Einfuhr nicht minder als Ausfuhr – und daß der direkte Auslandshandel der Engländer sich allmählich auf die Kolonien, China, die Vereinigten Staaten und Südamerika beschränkte. Noch weniger merkte er, daß diese Deutschen handelten mit andern Deutschen im Ausland, die mit der Zeit ein vollständiges Netzwerk von Handelskolonien über die ganze Welt organisierten. Als aber vor etwa vierzig Jahren Deutschland im Ernst anfing, für die Ausfuhr zu fabrizieren, da fand es in diesen deutschen Handelskolonien ein Werkzeug vor, das ihm wunderbare Dienste leistete in seiner Verwandlung, in so kurzer Zeit, aus einem kornausführenden Land in ein Industrieland ersten Rangs. Da endlich, vor etwa 10 Jahren, überkam den englischen Fabrikanten die Angst und er frug an bei seinen Gesandten und Konsuln, wie es käme, daß er seine Kunden nicht mehr beisammenhalten könne. Die einstimmige Antwort war: 1. ihr lernt nicht die Sprache eures Kunden, sondern verlangt, daß er die eurige spreche, und 2. ihr versucht nicht einmal, die Bedürfnisse, Gewohnheiten und Geschmäcke eures Kunden zu befriedigen, sondern verlangt, daß er eure englischen annehme.

[1] Folgendes ist die Stelle über die Französische Revolution: »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr alles basiert sein. Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie kreisen, war das noch nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der N–s, die Vernunft, die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazugekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geisteshat die Welt durchschauert, als sei es zur Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen« (Hegel, »Philosophie der Geschichte«, 1840, S. 535.) – Sollte es nicht hohe Zeit sein, gegen solche gemeingefährliche Umsturzlehren des weiland Professor Hegel das Sozialistengesetz in Bewegung zu setzen?

[2] Aus: »The Revolution in Mind and Practice« , einer an alle »roten Republikaner, Kommunisten und Sozialisten Europas« gerichteten und der französischen provisorischen Regierung 1848, aber auch »der Königin Viktoria und ihren verantwortlichen Ratgebern« zugesandten Denkschrift.

[3] Es braucht hier nicht auseinandergesetzt zu werden, daß, wenn auch die Aneignungsform dieselbe bleibt, der Charakter der Aneignung durch den oben geschilderten Vorgang nicht minder revolutioniert wird als die Produktion. Ob ich mir mein eignes Produkt aneigne oder das Produkt andrer, das sind natürlich zwei sehr verschiedne Arten von Aneignung. Nebenbei: die Lohnarbeit, in der die ganze kapitalistische Produktionsweise bereits im Keime steckt, ist sehr alt; vereinzelt und zerstreut ging sie jahrhundertelang her neben der Sklaverei. Aber zur kapitalistischen Produktionsweise entfalten konnte sich der Keim erst, als die geschichtlichen Vorbedingungen hergestellt waren.

[4] »Lage der arbeitenden Klasse in England« , S. l09

[5] Ich sage, muß. Denn nur in dem Falle, daß die Produktionsoder Verkehrsmittel der Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar geworden, nur in diesem Falle bedeutet sie, auch wenn der heutige Staat sie vollzieht, einen ökonomischen Fortschritt, die Erreichung einer neuen Vorstufe zur Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft selbst. Es ist aber neuerdings, seit Bismarck sich aufs Verstaatlichen geworfen, ein gewisser falscher Sozialismus aufgetreten und hie und da sogar in einige Wohldienerei ausgeartet, der jede Verstaatlichung, selbst die Bismarcksche, ohne weiteres für sozialistisch erklärt. Allerdings, wäre die Verstaatlichung des Tabaks sozialistisch, so zählten Napoleon und Metternich mit unter den Gründern des Sozialismus. Wenn der belgische Staat aus ganz alltäglichen politischen und finanziellen Gründen seine Haupteisenbahnen selbst baute, wenn Bismarck ohne jede ökonomische Notwendigkeit die Hauptbahnlinien Preußens verstaatlichte, einfach, um sie für den Kriegsfall besser einrichten und ausnützen zu können, um die Eisenbahnbeamten zu Regierungsstinunvieh zu erziehn und hauptsächlich, um sich eine neue, von Parlamentsbeschlüssen unabhängige Einkommensquelle zu verschaffen – so waren das keineswegs sozialistische Schritte, direkt oder indirekt, bewußt oder unbewußt. Sonst wären auch die königliche Seehandlung, die königliche Porzellanmanufaktur und sogar der Kompanieschneider beim Militär sozialistische Einrichtungen oder gar die unter Friedrich Wilhelm III. in den dreißiger Jahren alles Ernstes von einem Schlaumeier vorgeschlagene Verstaatlichung der – Bordelle.

[6] Ein paar Zahlen mögen eine annähernde Vorstellung geben von der enormen Expansionskraft der modernen Produktionsmittel, selbst unter dem kapitalistischen Druck. Nach der Berechnung von Giffen betrug der Gesamtreichtum von Großbritannien und Irland in runder Zahl:

1814 2.200 Millionen Pfd.St. = 44 Milliarden Mark

1865 6.100 Millionen Pfd.St. = 122 Milliarden Mark

1875 8.500 Millionen Pfd.St. = 170 Milliarden Mark

Was die Verheerung von Produktionsmitteln und Produkten in den Krisen betrifft, so wurde auf dem 2. Kongreß deutscher Industrieller, Berlin, 21. Februar 1878, der Gesamtverlust allein der deutschen Eisenindustrie im letzten Krach auf 455 Millionen Mark berechnet.

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