Volltext-Dokument

Engels ~ Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag


geschrieben im Februar 1876

drucken | zurückblättern | nach unten | Startseite

FRIEDRICH ENGELS

Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag

I

Am 4. Februar interpellierte Herr von Kardorff die Reichsregierung wegen der hohen Besteuerung des deutschen »Sprits« in England und Italien. Er machte die Herren darauf aufmerksam, daß (Referat der »Kölnischen Zeitung«)

»in unseren östlichen und nördlichen Provinzen weite Länderstrecken, Hunderte von Quadratmeilen eines ziemlich unfruchtbaren, sterilen Bodens, zu einer verhältnismäßig hohen Ertragsfähigkeit und Kultur gediehen sind durch einen sehr ausgedehnten Kartoffelbau, und daß dieser Kartoffelbau wieder zur Grundlage die Tatsache hat, daß über diese Länder zahlreiche Brennereien zerstreut liegen, in welchen die Spritfabrikation als landwirtschaftliches Nebengewerbe betrieben wird. Während früher in jenen Ländern auf der Quadratmeile etwa tausend Menschen lebten, ernährt das Land jetzt infolge der Spritfabrikation etwa dreitausend Menschen pro Quadratmeile, denn die Brennereien sind für die Kartoffel deshalb ein notwendiger Absatzmarkt, weil sie ihrem Volumen nach schwierig zu transportieren ist und im Winter wegen des Frostes gar nicht transportiert werden kann. Zweitens wandeln die Brennereien die Kartoffel in den wertvollen und leicht transportabeln Alkohol um und machen endlich den Boden fruchtbarer durch zahlreiche Futterrückstände. Wie bedeutend die hierbei in Frage kommenden Interessen sind, das kann sich jeder klarmachen, der überlegt, daß wir aus der Spiritussteuer für unsere Staatseinnahmen etwa 36 Millionen Mark entnehmen, trotzdem Deutschland von allen Ländern der Welt die niedrigste Spiritussteuer besitzt, z. B. eine fünfmal niedrigere als Rußland.«

Den preußischen Junkern muß in der letzten Zeit der Kamm sehr geschwollen sein, daß sie den Mut haben, die Augen der Welt auf ihre »Sprit-Industrie«, vulgo Schnapsbrennerei zu ziehn.

Im vorigen Jahrhundert wurde in Deutschland nur wenig Branntwein destilliert, und dieser nur aus Korn. Man verstand zwar nicht, das auch in diesem Branntwein enthaltene Fuselöl (wir kommen auf diesen Punkt zurück) auszuscheiden, da man dies Fuselöl selbst noch gar nicht kannte; aber man wußte aus Erfahrung, daß die Qualität des Branntweins durch längeres Aufbewahren sich wesentlich verbesserte, daß der brennende Geschmack sich verlor und daß sein Genuß weniger berauschend und weniger störend auf die Gesundheit wirkte. Die kleinbürgerlichen Bedingungen, unter denen damals gebrannt wurde, und die noch unentwickelte, mehr auf Qualität als auf Quantität sehende Nachfrage erlaubten fast überall, das Produkt im Keller jahrelang aufzubewahren und ihm so durch allmähliche chemische Umwandlung der schädlicheren Bestandteile einen weniger verderblichen Charakter zu geben. So finden wir am Ende des vorigen Jahrhunderts ein ausgedehntere Brennerei meist auf wenige städtische Orte beschränkt, Münster, Ulrichstein, Nordhausen u. a., und deren Produkt gewöhnlich mit dem Beiwort »alt« ausgestattet.

Gegen Anfang dieses Jahrhunderts vermehrten sich die Brennereien auf dem Lande als Nebengewerbe der größeren Gutsbesitzer und Pächter, besonders in Hannover und Braunschweig. Sie fanden Abnehmer, einerseits durch den sich stets weiter verbreitenden Branntweingenuß, andrerseits durch die Bedürfnisse der stets wachsenden und stets kriegführenden Armeen, die ihrerseits wieder den Geschmack am Branntwein in immer weitere Kreise trugen. So konnte denn nach dem Frieden von 1814 die Brennerei sich weiter und weiter ausdehnen, und in der beschriebenen, von der alten städtischen Brennerei ganz verschiedenen Art, als Nebengewerbe großer Gutsbewirtschafter, am Niederrhein, in Preußisch-Sachsen, Brandenburg und der Lausitz festen Fuß fassen.

Der Wendepunkt für die Brennerei war aber die Entdeckung, daß man Branntwein nicht nur aus Korn lohnend herstellen könne, sondern auch aus Kartoffeln. Damit wurde das ganze Gewerbe revolutioniert. Einerseits wurde damit der Schwerpunkt der Brennerei endgültig von den Städten aufs Land verlegt und die kleinbürgerlichen Produzenten von gutem altem Getränk mehr und mehr durch die infamen Kartoffelfusel produzierenden Großgrundbesitzer verdrängt. Andrerseits aber, und dies ist geschichtlich viel wichtiger, wurde der kornbrennende Großgrundbesitzer vom kartoffelbrennenden Großgrundbesitzer verdrängt; die Brennerei verzog sich mehr und mehr vom fruchtbaren Kornland aufs unfruchtbare Kartoffelland, d. h. von Nordwestdeutschland nach Nordostdeutschland – nach Altpreußen östlich der Elbe.

Dieser Wendepunkt trat ein mit der Mißernte und Hungersnot von 1816. Trotz der besseren Ernten der beiden folgenden Jahre blieben infolge der anhaltenden Kornausfuhr nach England und andern Ländern die Kornpreise so hoch, daß es fast unmöglich wurde, Korn zur Brennerei zu verwenden. Das Oxhoft Schnaps, das 1813 nur 39 Taler gegolten, wurde 1817 zu 70 Taler verkauft. Da trat die Kartoffel an die Stelle des Korns, und 1823 war das Oxhoft bereits zu 14 bis 17 Taler zu haben!

Wie aber kamen die armen, durch den Krieg und ihre dem Vaterland gebrachten Opfer angeblich total ruinierten ostelbischen Junker zu den Mitteln, vermöge deren sie ihre drückenden Hypothekenschulden in einträgliche Schnapsbrennereien verwandelten? Die günstigen Konjunkturen der Jahre 1816 bis 1819 lieferten ihnen zwar sehr vorteilhafte Erträge und vermehrten ihren Kredit durch die allgemein steigenden Bodenpreise; das reichte jedoch lange nicht hin. Unsre patriotischen Junker erhielten aber außerdem: erstens Staatshülfe in verschiedenen direkten und indirekten Formen, und zweitens kam ein Umstand hinzu, den wir besonders ins Auge fassen müssen. Bekanntlich war in Preußen 1811 die Ablösung der bäuerlichen Frondienste und überhaupt die Auseinandersetzung zwischen Bauern und Gutsherrn gesetzlich derart geregelt worden, daß die Naturalleistungen in Geldleistungen umgewandelt, diese kapitalisiert und entweder in barem Geld in bestimmten Ratenzahlungen oder aber durch Abtretung eines Stücks bäuerlichen Landes an den Gutsherrn oder auch teilweise in Geld, teilweise in Boden abgelöst werden konnten. Dies Gesetz blieb ein toter Buchstabe, bis die hohen Kornpreise 1816 bis 1819 die Bauern in den Stand setzten, mit der Ablösung voranzugehen. Von 1819 an nahmen die Ablösungen in Brandenburg raschen Fortgang, langsamer in Pommern, noch langsamer in Posen und Preußen. Das auf diese Weise den Bauern zwar gesetzlich aber widerrechtlich (denn die Fronlasten waren ihnen widerrechtlich aufgezwungen worden) abgenommene Geld, soweit es nicht in altadliger Weise sofort verjubelt wurde, diente hauptsächlich zur Anlage von Brennereien. Auch in den übrigen drei genannten Provinzen breitete sich die Brennerei in demselben Maße aus, in dem die bäuerlichen Ablösungen die Mittel dazu lieferten. Die Schnapsindustrie der preußischen Junker ist also buchstäblich mit dem den Bauern abgenommenen Gelde gegründet worden. Und sie ging flott voran, besonders seit 1825. Schon zwei Jahre später, 1827, wurden in Preußen 125 Millionen Quart Schnaps gebrannt, also 10 ½ Quart für jeden Kopf der Bevölkerung, im Gesamtwert von 15 Millionen Taler; Hannover dagegen, fünfzehn Jahre vorher der erste Schnapsstaat Deutschlands, produzierte nur 18 Millionen Quart.

Man begreift, daß nunmehr ganz Deutschland, soweit sich die Einzelstaaten oder Zollverbände von Einzelstaaten nicht durch Zollschranken dagegen eindämmten, von einer wahren Sturmflut von preußischem Kartoffelfusel überströmt wurde. 14 Taler das Ohm zu 180 Quart, also das Quart 2 Groschen 4 Pfennig im Großhandel! Die Besoffenheit, die früher das Drei- und Vierfache gekostet hatte, war jetzt auch den Unbemitteltsten tagtäglich zugänglich gemacht, seit der Mann für 15 Silbergroschen die ganze Woche lang im höchsten Tran bleiben konnte.

Die Wirkung dieser an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten, aber stets fast urplötzlich sich fühlbar machenden, beispiellos wohlfeilen Branntweinpreise war unerhört. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Ende der zwanziger Jahre die Schnapswohlfeilheit plötzlich über den niederrheinisch-märkischen Industriebezirk hereinbrach. Namentlich im Bergischen, und ganz besonders in Elberfeld-Barmen, verfiel die Masse der arbeitenden Bevölkerung dem Trunk. Scharenweise Arm in Arm, die ganze Breite der Straße einnehmend, schwankten von 9 Uhr abends an die »besoffenen Männer« unter disharmonischem Gejohle von Wirtshaus zu Wirtshaus und endlich nach Hause. Bei dem damaligen Bildungszustand der Arbeiter, bei der vollständigen Auswegslosigkeit ihrer Lage war das kein Wunder. Namentlich nicht im gesegneten Wuppertal, wo seit sechzig Jahren immer eine Industrie die andre ablöst, wo also fortwährend ein Teil der Arbeiter gedrückt, wo nicht brotlos war, während ein andrer (damals die Färber) für jene Zeit gut bezahlt wurde. Und wenn, wie damals, den Wuppertaler Arbeitern keine andre Wahl blieb als die zwischen dem irdischen Schnaps der Kneipen und dem himmlischen Schnaps der pietistischen Pfaffen – was Wunder, daß sie den ersteren vorzogen, so schlecht er war.

Und er war sehr schlecht. Wie er aus dem Kühlapparat kam, ohne weitere Reinigung, mit all seinem Gehalt an Fuselöl, wurde er verschickt und frisch getrunken. Alle aus Weintrebern, Runkelrüben, Korn oder Kartoffeln destillierten Branntweine enthalten dieses Fuselöl, ein Gemisch von höheren Alkoholen, d. h. von dem gewöhnlichen Alkohol analog zusammengesetzten, jedoch mehr Kohlenstoff und Wasserstoff enthaltenden Flüssigkeiten (u. a. primärer Propylalkohol, Isobutylalkohol, bei weitem vorwiegend aber Amylalkohol). Alle diese Alkohole sind schädlicher als der gewöhnliche Weingeist (Äthylalkohol), und die Dosis, in der sie giftig wirken, ist viel geringer als bei diesem. Professor Binz in Bonn hat neuerdings durch zahlreiche Versuche nachgewiesen, daß die berauschenden Wirkungen unsrer geistigen Getränke, ebensosehr wie deren unangenehme Nachwirkungen im wohllöblichen Katzenjammer respektive in ernsthafteren Krankheits- und Vergiftungserscheinungen, weit weniger dem gewöhnlichen Weingeist oder Äthylalkohol als vielmehr den höheren Alkoholen, also dem Fuselöl, zuzuschreiben sind. Nicht allein aber wirken sie berauschender und zerstörender, sie bestimmen auch den Charakter des Rausches. Jedermann weiß aus eigner Anschauung, wo nicht Erfahrung, wie verschieden Weinrausch (ja selbst die Räusche der verschiedenen Weinsorten), Bierrausch, Schnapsrausch in ihrer Wirkung auf das Gehirn sind. Je mehr Fuselöl im Getränk und je ungesunder dies Fuselöl in seiner Zusammensetzung, desto wüster und wilder wird der Rausch. Junger, ungereinigter Kartoffelschnaps enthält aber bekanntlich von allen gebrannten Getränken das meiste und das am ungünstigsten zusammengesetzte Fuselöl. Die Wirkung ungewöhnlich starker Quantitäten dieses Getränks auf eine so erregbare, leidenschaftliche Bevölkerung wie die des Bergischen Landes war denn auch ganz dementsprechend. Der Charakter des Rausches hatte sich total verändert. Jede Lustbarkeit, die früher mit gemütlicher Anheiterung und nur selten mit Exzessen endigte, bei welchen letzteren dann freilich der Kneif (das Messer, englisch knife) nicht selten seine Rolle spielte, jede solche Lustbarkeit artete nun aus in ein wüstes Gelage und endigte mit unfehlbarer Keilerei, wobei Messerverwundungen nie fehlten und die tödlichen Messerstiche immer häufiger wurden. Die Pfaffen schoben das auf die zunehmende Gottlosigkeit, die Juristen und andren Philister auf die Kneipenbälle. Die wahre Ursache war die plötzliche Überflutung mit preußischem Fuselöl, das eben seine normale physiologische Wirkung ausübte und Hunderte armer Teufel in die Festungsbaugefangenschaft ablieferte.

Diese akute Wirkung des wohlfeilen Schnapses dauerte jahrelang, bis sie allmählich sich mehr oder weniger verlor. Aber die Einwirkung auf die Sitten verschwand nicht ganz; der Branntwein blieb für die Arbeiterklasse ein Lebensbedürfnis in höherem Grade als vorher, und die Qualität, wenn sie sich auch etwas besserte, blieb weit unter der des früheren alten Kornbranntweins.

Und wie im Bergischen, so ging es anderswo. Zu keiner Zeit waren die Wehklagen des Philisteriums über Zunahme des übermäßigen Branntweintrinkens unter den Arbeitern allgemeiner, einstimmiger und lauter als von 1825 bis 1835. Es ist sogar fraglich, ob nicht die Dumpfheit, in der speziell die norddeutschen Arbeiter die Ereignisse von 1830 über sich ergehen ließen, ohne davon berührt zu werden, großenteils dem Schnaps zu danken ist, der sie damals mehr als je beherrschte. Ernstliche und besonders erfolgreiche Aufstände kamen nur in Weinländern oder in solchen deutschen Staaten vor, die sich durch Zölle vor preußischem Schnaps mehr oder weniger geschützt hatten. Es wäre nicht das einzige Mal, daß der Schnaps den preußischen Staat gerettet hätte.

Die einzige Industrie, die es zu noch verheerenderen direkten Wirkungen – und dies doch nicht gegen das eigene Volk, sondern gegen Fremde – gebracht hat, ist die englisch-indische Opiumindustrie zur Vergiftung von China.

Indessen ging die Schnapsfabrikation lustig ihren Gang fort, dehnte sich mehr und mehr nach Osten zu aus und brachte einen Morgen nach dem andern von der nordostdeutschen Sand- und Sumpfwüste unter die Kartoffel. Nicht zufrieden damit, das Vaterland zu beglücken, strebte sie darnach, dem Ausland die Segnungen des altpreußischen Fuselöls zugänglich zu machen. Man destillierte den gewöhnlichen Schnaps nochmals, um einen Teil des darin enthaltenen Wassers zu entfernen, und nannte den so erhaltenen wasserhaltigen und unreinen Weingeist »Sprit«, welches die Übersetzung von Spiritus ins Preußische ist. Die höheren Alkohole haben sämtlich höhere Siedepunkte als der Äthylalkohol. Während dieser bei 78 ½ Grad des hundertteiligen Thermometers siedet, ist der Siedepunkt des primären Propylalkohols 97 Grad, der des Isobutylalkohols 109 Grad, der des Amylalkohols 132 Grad. Nun sollte man glauben, bei vorsichtiger Destillation müsse mindestens der größte Teil des letzteren, des Hauptbestandteils des Fuselöls, sowie ein Teil des Isobutylalkohols zurückbleiben, und es werde höchstens ein Teil von diesem mit überdestillieren sowie der meiste primäre Propylalkohol, der indes nur sehr schwach im Fuselöl vertreten ist. Aber selbst die wissenschaftliche Chemie verzichtet auf Trennung der drei niedrigeren hier in Frage kommenden Alkohole durch die Destillation und kann den Amylalkohol nur durch die in der Brennerei unanwendbare fraktionierte Destillation aus dem Fuselöl absondern. Dabei geht es bei Destillationen in ländlichen Schnapsfabriken rauh genug her. Kein Wunder also, wenn der anfangs der vierziger Jahre ausgeführte Sprit noch bedeutend mit Fuselöl versetzt war, wie man das am Geruch leicht erkennen konnte; der reine oder nur wasserhaltige Weingeist ist fast geruchlos.

Dieser Sprit ging vorzugsweise nach Hamburg. Was geschah damit? Ein Teil wurde in solche Länder verschickt, wo die Eingangszölle ihm nicht Tor und Tür versperrten – an diesem Export nahm auch Stettin teil; die Hauptmasse aber wurde in Hamburg und Bremen zur Fälschung von Rum benutzt. Dieser in Westindien teilweise aus dem Zuckerrohr selbst, größtenteils aber aus den bei der Zuckerbereitung bleibenden Abfällen des Rohrs destillierte Schnaps war der einzige, der infolge seiner wohlfeilen Herstellungskosten als eine Art Luxusgetränk der Massen noch mit dem Kartoffelschnaps konkurrieren konnte. Um nun einen »feinen« aber dennoch wohlfeilen Rum herzustellen, nahm man z. B. ein Faß wirklich feinen Jamaikarum, drei bis vier Fässer wohlfeilen schlechten Berbicerum und zwei bis drei Fässer preußischen Kartoffelsprit – und dies oder ein ähnliches Gemisch durcheinander ergab denn das Gewünschte. Dieses »Gift«, wie es bei der Fälschung beteiligte Kaufleute selbst in meiner Gegenwart nannten, wurde verschifft nach Dänemark, Schweden, Norwegen und Rußland, sehr bedeutenden Teils aber auch ging es wieder elbaufwärts oder über Stettin in die Länder, woher der edle Sprit gekommen war, und wurde dort teils für Rum getrunken, teils nach Österreich und Polen eingeschmuggelt.

Die Hamburger Kaufleute blieben nicht bei der Rumfälschung stehen. Mit der ihnen eigenen Genialität sahen sie zuerst, welche welterschütternde Zukunftsrolle dem preußischen Kartoffelschnaps vorbehalten war. Sie hatten sich schon an allerlei andern Getränken versucht, und bereits Ende der dreißiger Jahre wollte niemand im außerpreußischen Norddeutschland, der von Wein etwas verstand, weiße französische Weine aus Hamburg beziehen, da es allgemein hieß, diese würden dort mit Bleizucker süß gemacht und damit gleichzeitig vergiftet. Wie dem aber auch sei, der Kartoffelsprit wurde bald die Grundlage einer immer wachsenden Getränkefälschung. Dem Rum folgte der Kognak, der schon mehr Kunst in der Behandlung erforderte. Bald fing man an, Wein mit Sprit zu behandeln, und endlich kam man dahin, Portwein und spanische Weine ganz ohne Wein zu bereiten aus Sprit, Wasser und Pflanzensäften, die mehrfach durch Chemikalien versetzt wurden. Das Geschäft florierte um so mehr, als in vielen Ländern dergleichen Praktiken entweder direkt verboten waren oder doch so nahe an das Strafgesetz anstreiften, daß man es noch nicht für geraten hielt, sich daranzuwagen. Aber Hamburg war der Sitz des unbeschränkten Freihandels, und so wurde »auf Hamburgs Wohlergehen« flott drauflos gefälscht.

Indes das Monopol der Fälschung dauerte nicht lange. Nach der Revolution von 1848, als in Frankreich die ausschließliche Herrschaft der großen Finanz und einiger weniger hervorragender Großindustrieller durch die momentane Herrschaft der gesamten Bourgeoisie ersetzt worden, fingen die französischen Produzenten und Händler an einzusehen, welche Wunderkräfte in so einem Faß preußischen Kartoffelsprits schlummerten. Man begann seinen Kognak schon zu Hause zu versetzen, statt ihn unverfälscht ins Ausland zu senden, und noch mehr den für die inländische Konsumtion bestimmten Kognak (ich nenne so der Kürze halber allen aus Weintrebern destillierten Schnaps) durch kräftigen Zusatz von preußischem Kartoffelsprit zu veredeln. Dadurch wurde der Kognak – der einzige Schnaps, der in Frankreich in die Massenkonsumtion eingeht – bedeutend wohlfeiler. Das Zweite Kaiserreich begünstigte diese Manöver natürlich im Interesse der leidenden Massen, und so finden wir beim Sturze der napoleonischer Dynastie, daß dank den Gnadenwirkungen des altpreußischen Schnapses die Trunkenheit, früher dort fast unbekannt, in Frankreich eine bedeutende Ausdehnung erlangt hat.

Eine unerhörte Reihe schlechter Weinernten und schließlich der Handelsvertrag von 1860, der England dem französischen Weinhandel öffnete, gaben den Anlaß zu einem neuen Fortschritt. Die schwachen Weine schlechter Jahrgänge, deren Säure durch Zuckerzusatz nicht zu beseitigen war, bedurften eines Alkoholbeisatzes, um haltbar zu werden. Man mischte sie also mit preußischem Sprit. Ferner war der englische Geschmack an starke Weine gewöhnt – die natürlichen französischen Landweine, die jetzt massenhaft zum Export kamen, waren den Engländern zu dünn und zu kalt. Was in der Welt konnte man Besseres finden, um sie kräftig und warm zu machen, als den preußischen Sprit? Bordeaux wurde mehr und mehr de Hauptplatz für die Fälschung französischer, spanischer und italienischer Weine, die dort in »feinen Bordeaux« umgewandelt wurden, und – für die Vernutzung von preußischem Sprit.

Jawohl, spanische und italienische Weine. Seitdem der Konsum französischer Rotweine – und andere will kein Bourgeois trinken – so enorm in England, Nord- und Südamerika und den Kolonien zugenommen hat, reicht selbst der fast unerschöpfliche Weinreichtum Frankreichs nicht mehr aus. Fast die ganze brauchbare Weinernte von Nordspanien, u. a. die ganze Ernte der weinreichen Rioja im Ebrotal, geht nach Bordeaux. Ebendahin schicken Genua, Livorno, Neapel ganze Schiffsladungen von Wein. Während diese Weine mit Hilfe des preußischen Sprits fähig gemacht werden, den Seetransport auszuhalten, steigert diese Weinausfuhr die Weinpreise in Spanien und Italien derart, daß der Wein ganz unerschwinglich wird für die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die ihn früher täglich trank. Statt dessen trinkt sie Schnaps, und der Hauptbestandteil dieses Schnapses ist wieder – preußischer Kartoffelsprit. Ja, Herr von Kardorff beklagt sich im Reichstag darüber, daß dies in Italien noch nicht in hinreichendem Maß der Fall sei.

Wohin wir uns wenden, überall finden wir preußischen Sprit. Der preußische Sprit reicht unvergleichlich weiter als der Arm der deutschen Reichsregierung. Und wo wir diesen Sprit finden, dient er vor allem – der Fälschung. Er wird das Mittel, wodurch südeuropäische Weine verschiffbar und damit der inländischen arbeitenden Bevölkerung entzogen werden. Und wie die Lanze des Achilles die Wunden heilt, die sie geschlagen, so bietet der preußische Sprit den des Weins beraubten Arbeiterklassen gleichzeitig den Ersatz in verfälschtem Branntwein! Kartoffelsprit ist für Preußen das, was Eisen und Baumwollenwaren für England sind, der Artikel, der es auf dem Weltmarkt repräsentiert. Wohl mag daher der neueste Adept und zugleich Regenerator des Sozialismus, Herr Eugen Dühring, die Brennerei »in erster Linie … als natürlichen Anschluß (der Industrie) an die landwirtschaftlichen Tätigkeiten« feiern und triumphierend ausrufen :

»Die Spirituserzeugung ist von einer solchen Bedeutung, daß man sie eher unterschätzen als überschätzen wird!«

Aber freilich, das »Anch'io son pittore« (Auch ich bin Maler, wie Correggio sagte) heißt auf preußisch: »Auch ich bin Schnapsbrenner.«

Damit aber sind die Wundertaten des preußischen Kartoffelschnapses noch lange nicht erschöpft.

»Während früher in jenen Ländern«, sagt Herr von Kardorff, »auf der Quadratmeile etwa tausend Menschen wohnten, ernährt das Land jetzt infolge der Spritfabrikation etwa dreitausend Menschen pro Quadratmeile

Und das ist im ganzen richtig. Ich weiß nicht, von welcher Zeit Herr von Kardorff spricht, wenn er die Bevölkerung auf tausend Köpfe pro Quadratmeile angibt. So eine Zeit hat sicher einmal existiert. Wenn wir aber die Provinzen Sachsen und Schlesien ausschließen, in denen die Brennerei neben den andern Industrien eine weniger hervorragende Rolle spielt, ferner Posen, dessen größter Teil trotz aller Anstrengungen der Regierung noch immer keine Lust bezeigt, etwas andres zu sein als polnisch, so bleiben uns die drei Provinzen Brandenburg, Pommern und Preußen. Diese drei Provinzen haben eine Oberfläche von zusammen 2.415 Quadratmeilen. Sie hatten eine Gesamtbevölkerung 1817 von 3.479.825 Köpfen oder 1.441 auf die Quadratmeile; 1871 von 7.432.407 Köpfen oder 3.078 auf die Quadratmeile. Wir stimmen ganz mit Herrn von Kardorff überein, wenn er diesen Zuwachs der Bevölkerung wesentlich als direkte oder indirekte Folge der Schnapsbrennerei ansieht. Rechnen wir hierzu die Altmark, das nördliche, ackerbautreibende Niederschlesien und den überwiegend deutschen Teil von Posen, wo die Bevölkerungsverhältnisse sich ähnlich gestaltet haben werden, so haben wir das eigentliche Schnapsgebiet, aber auch gleichzeitig den Kern der preußischen Monarchie. Und hiermit eröffnet sich eine ganz andere Perspektive. Die Brennerei zeigt sich jetzt als die eigentliche materielle Grundlage des gegenwärtigen Preußens. Ohne sie mußte das preußische Junkertum zugrunde gehen; seine Güter wären zum Teil von großen Landmagnaten aufgekauft worden, die eine wenig zahlreiche Aristokratie im russischen Sinn gebildet hätten; zum Teil wären sie zerschlagen worden und hätten die Grundlage zu einem selbständigen Bauernstand gebildet. Ohne sie wäre der Kern Preußens ein Land von etwa 2.000 Köpfen auf die Quadratmeile geblieben, unfähig, in der Geschichte weiterhin eine Rolle zu spielen, weder im guten noch im schlechten, bis die bürgerliche Industrie sich hinreichend entwickelt, um auch hier die gesellschaftliche und vielleicht politische Leitung zu übernehmen. Die Brennerei hat der Entwicklung eine andere Wendung gegeben. Auf einem Boden, der fast nichts hervorbringt als Kartoffeln und Krautjunker, aber diese auch massenhaft, konnte sie der Konkurrenz einer Welt Trotz bieten. Mehr und mehr begünstigt von der Nachfrage – aus schon erklärten Umständen –, konnte sie sich zur Zentralschnapsfabrik der Welt erheben. Unter den vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnissen hieß dies nichts anderes als die Ausbildung einerseits einer Klasse mittelgroßer Grundbesitzer, deren jüngere Söhne das Hauptmaterial lieferten für die Offiziere der Armee und für die Bürokratie, d. h. eine neue Lebensfrist für das Junkertum, andererseits einer sich verhältnismäßig rasch vermehrenden Klasse von Halbhörigen aus denen sich die Masse der »Kernregimenter« der Armee rekrutiert. Was die Lage dieser nominell Freien, aber meist durch Jahreskontrakte, durch Naturalempfänge, durch die Wohnungsverhältnisse, schließlich durch die gutsherrliche Polizei, die mit der neuen Kreisordnung nur eine veränderte Form angenommen hat, dem Gutsherrn praktisch vollständig hörig gemachten Arbeitermasse ist, darüber kann man in den Schriften von Professor von der Goltz sich Rats erholen. Kurz, wenn Preußen in den Stand gesetzt wurde, die 1815 verschluckten westelbischen Brocken einigermaßen zu verdauen, 1848 die Revolution in Berlin zu erdrücken, 1849 trotz der rheinisch-westfälischen Aufstände an die Spitze der deutschen Reaktion zu treten, 1866 den Krieg mit Österreich durchzuführen und 1871 ganz Kleindeutschland unter die Führung dieses zurückgebliebensten, stabilsten, ungebildetsten, noch halbfeudalen Teils von Deutschland zu bringen, wem verdankt es das? Der Schnapsbrennerei.

II

Kehren wir indes zum Reichstag zurück. An der Debatte beteiligen sich vorwiegend Herr von Kardorff, Herr von Delbrück und der hamburgische Bundesbevollmächtigte Krüger. Nach dieser Debatte scheint es fast, als täten wir dem preußischen Kartoffelspiritus ein himmelschreiendes Unrecht. Nicht der preußische, sondern der russische Sprit ist vom Übel. Herr von Kardorff beklagt sich, daß Hamburger Industrielle russischen Schnaps (und dieser ist, wie Herr Krüger ausdrücklich hervorhebt, aus Korn, nicht aus Kartoffeln gebrannt) zu Sprit verarbeiten, »als deutschen Sprit versenden und damit dem Renommee des deutschen Sprits Abbruch tun«. Herrn Delbrück »ist gesagt worden, daß eine solche Unterschiebung dadurch große Schwierigkeiten finden würde, daß es bis jetzt noch nicht gelungen sei, aus russischem Branntwein geruchlosen Sprit herzustellen wie aus deutschem«, er fügte aber vorsichtig hinzu: »Meine Herren, das kann ich natürlich nicht wissen.«

Also nicht der preußische Kartoffelspiritus, sondern der russische Kornspiritus ist vom Übel. Der preußische Kartoffelsprit ist »geruchlos«, d. h. fuselfrei; der russische Kornsprit ist bis jetzt noch nicht geruchlos herzustellen, enthält also Fuselöl, und wenn er als preußischer verkauft wird, so bringt er diesen um sein fuselfreies Renommee. Hiernach hätten wir den preußischen »Fuselfreien« allerdings in bübischer Weise und in durchaus reichsfeindlicher Absicht verleumdet. Sehen wir zu, wie es in der Wirklichkeit sich verhält.

Man hat allerdings ein Verfahren, um Branntwein zu entfuseln, indem man ihn mit frisch geglühter Holzkohle behandelt. Infolgedessen ist der in den Handel kommende Sprit überhaupt in letzter Zeit weniger mit Fuselöl versetzt gewesen. Nun aber ist zwischen den beiden Spritsorten, die uns hier angehen, folgender Unterschied: Der Kornspiritus kann ohne große Mühe vollständig entfuselt werden, während die Entfuselung des Kartoffelsprits viel schwieriger und in der Großproduktion praktisch so sehr unmöglich ist, daß selbst der reinste aus Kartoffelschnaps hergestellte Spiritus beim Zerreiben auf der Hand stets Fuselgeruch zurückläßt. Daher ist es Regel, daß für Verwendung in Apotheken und zu feinen Likören nur Kornspiritus, nie aber Kartoffelsprit genommen wird oder doch genommen werden soll (denn auch hier wird ja gefälscht!).

Und ein paar Tage nachdem die »Kölnische Zeitung« obige Schnapsdebatte gebracht, bringt sie (8. Februar, erstes Blatt) in den Vermischten Nachrichten folgenden Stoßseufzer eines rheinischen Schoppenstechers:

»Äußerst wünschenswert wäre es nun, auch den Zusatz von Kartoffelsprit zum dünnen Wein darzutun. Wüste Eingenommenheit des Kopfes hinterher weist allerdings, aber zu spät, darauf hin. Der Kartoffelsprit enthält noch Fuselöl, dessen sonst unangenehmer Geruch durch den eigentümlichen des Weins verdeckt wird. Diese Verfälschung gehört zu den häufigsten

Endlich, um die altpreußischen Schnapsbrenner zu beruhigen, läßt Herr Krüger das bedenkliche Faktum ans Tageslicht, daß der russische Kornspiritus im Hamburger Markt vier Mark teurer bezahlt wird als der preußische Kartoffelsprit. Letzterer wurde am 7. Februar in Hamburg mit 35 Mark pro 100 Liter notiert; der russische holt also einen um 12 Prozent besseren Preis als der preußische, dessen Renommee er angeblich Abbruch tut!

Und nun sehe man sich nach allen diesen Tatsachen die verletzte Unschuldsmiene des verleumdeten, »geruchlosen«, auf sein Renommee eifersüchtigen, tugendhaften preußischen »Fuselfreien« an, der im Großhandel nur 35 Markpfennige das Liter kostet, wohlfeiler als Bier! Wenn man jene Debatte und diese Tatsachen zusammenhält, kommt man da nicht in Versuchung zu fragen: Wer wird hier zum Narren gehalten?

Weltumfassend ist der gesegnete Einfluß des preußischen Fuselöls, denn mit dem Kartoffelsprit fließt es in jedes Getränk ein. Von dem sauren dünnen Mosel- und Rheinwein schlechter Lagen, der mit Kartoffelzucker und Kartoffelsprit in Brauneberger und Niersteiner umgezaubert wird, von dem schlechten Rotwein, der seit Gladstones Handelsvertrag England überschwemmt und dort »Gladstone« genannt wird, bis zum Château Lafitte und Champagner, Portwein und Madeira, den die Bourgeois in Indien, China, Australien und Amerika trinken, ist kein Getränk, in dessen Zusammensetzung nicht preußisches Fuselöl einträte. Die Produktion dieser Getränke floriert überall, wo Wein wächst und wo Wein in großen Massen lagert, und sie jubelt dem Kartoffelsprit Dithyramben entgegen. Aber die Konsumtion? Ja, die Konsumtion wird es inne, vermittelst der »wüsten Eingenommenheit des Kopfes«, worin die Segnungen des preußischen Fuselöls bestehen, und versucht sich diese Segnungen vorn Leibe zu halten. In Italien, sagt Herr von Kardorff, wendet man den Handelsvertrag so an, daß der preußische Sprit einen viel zu hohen Zoll zahlt. Belgien, Amerika, England machen durch hohe Zölle die Spritausfuhr dorthin unmöglich. In Frankreich kleben die Zollbeamten rote Zettel auf die Spritfässer, um sie als preußische zu kennzeichnen – wirklich das erste Mal, daß die französischen Zollbeamten irgend etwas Gemeinnütziges getan haben! Kurz, es ist so weit gekommen, daß Herr von Kardorff verzweiflungsvoll ausruft: »Meine Herren, wenn Sie sich die Lage der deutschen Spritindustrie vergegenwärtigen, werden Sie finden, daß sich alle Länder aufs ängstlichste gegen unsere Sprits verschließen!« Natürlich genug! Die Gnadenwirkungen dieser Sprits sind allgemach weltbekannt geworden, und die einzige Manier, sich die »wüste Eingenommenheit des Kopfes« vom Leibe zu halten, ist die, das Fuselzeug überhaupt nicht ins Land zu lassen.

Und nun zieht noch gar, schwer und dumpfig, eine Wetterwolke von Osten über die bedrängten Schnapsjunker empor. Der große Bruder in Rußland, der letzte Hort und Schirm aller altehrwürdigen Einrichtungen gegen moderne Zerstörungswut, fängt nun auch an, Schnaps zu brennen und auszuführen, und zwar Kornschnaps, und diesen liefert er obendrein ebenso wohlfeil wie die preußischen Junker ihren Kartoffelschnaps. Von Jahr zu Jahr mehrt sich die Produktion und die Ausfuhr dieses russischen Schnapses, und wenn er bisher in Hamburg zu Sprit rektifiziert wurde, so erzählt uns Herr Delbrück, daß »in den russischen Häfen … jetzt schon in der Anlage befindlich sind eine Anzahl mit vorzüglichsten Apparaten ausgestatteter Anstalten zur Rektifikation von russischem Branntwein«, und bereitet die Herren Junker darauf vor, daß die russische Konkurrenz mit jedem Jahre ihnen mehr über den Kopf wachsen wird. Herr von Kardorff fühlt das sehr gut und verlangt, die Regierung solle die Durchfuhr von russischem Spiritus durch Deutschland kurzerhand verbieten.

Herr von Kardorff sollte doch als freikonservativer Abgeordneter in der Lage sein, die Stellung der deutschen Reichsregierung zu Rußland besser zu würdigen. Nach der Annexion von Elsaß-Lothringen und der unerhörten Kriegsentschädigung der fünf Milliarden, wodurch man Frankreich zum notwendigen Bundesgenossen jedes Feindes von Deutschland gemacht hatte, und bei der Politik, sich überall geachtet oder vielmehr gefürchtet, aber nirgends geliebt zu machen, blieb nur eine Wahl: entweder nun auch rasch Rußland niederzuschlagen oder aber – sich die russische Allianz zu sichern (soweit auf Rußland Verlaß ist), indem man der gehorsame Diener der russischen Diplomatie wurde. Da man sich zur ersten Alternative nicht entschließen konnte, verfiel man rettungslos der zweiten. Preußen, und mit ihm das Reich, ist wieder in derselben Abhängigkeit von Rußland wie nach 1815 und nach 1850; und gerade wie nach 1815 dient die »Heilige Allianz« zum Deckmantel dieser Abhängigkeit. Das Resultat aller glorreichen Siege ist, daß man nach wie vor das fünfte Rad am europäischen Wagen bleibt. Und da wundert sich Bismarck, daß das deutsche Publikum nach wie vor sich um die Angelegenheiten des Auslandes kümmert, wo die wirklichen Schwerpunkte der Entscheidung liegen, statt um die Taten der Reichsregierung, die in Europa, und um die Reden des Reichstags, der in Deutschland nichts zu sagen hat! Die Durchfuhr russischen Sprits verbieten! Ich möchte den Reichskanzler sehen, der das wagte, ohne gleichzeitig die Kriegserklärung gegen Rußland im Sack zu haben! Und wenn Herr von Kardorff ein so sonderbares Verlangen an die Reichsregierung stellt, so sollte man fast glauben, nicht nur das Schnapstrinken, sondern schon das Schnapsbrennen wirke benebelnd auf den Verstand. Haben doch auch berühmtere Schnapsbrenner als Herr von Kardorff in der letzten Zeit Dinge vorgenommen, für die sich, von ihrem eigenen Standpunkte aus, absolut keine rationelle Erklärung finden läßt.

Im übrigen ist nichts begreiflicher, als daß die russische Konkurrenz unsern Schnapsjunkern ein unheimliches Grauen einflößt. Im Innern von Rußland gibt es große Landstriche, wo Korn ebenso wohlfeil zu haben ist wie Kartoffeln in Preußen. Brennmaterial ist zudem in Rußland meistens wohlfeiler als in unsern Brennereidistrikten. Alle materiellen Vorbedingungen sind da. Was Wunder, daß ein Teil des russischen Adels, ganz wie die preußischen Junker, das vom Staat bei der Frondenablösung für Rechnung der Bauern vorgeschossene Geld in Brennereien anlegt? Daß diese Brennereien, bei dem stets wachsenden Markt und bei dem Vorzug, den Kornbranntwein bei gleichem oder wenig höherem Preis stets vor Kartoffelbranntwein haben wird, sich rasch ausdehnen und daß schon jetzt die Zeit abzusehen ist, wo ihr Produkt den preußischen Kartoffelsprit gänzlich vom Markte verdrängt? Da hilft kein Klagen und kein Jammern. Die Gesetze der kapitalistischen Produktion, solange diese dauert, sind ebenso unerbittlich für Junker wie für Juden. Dank der russischen Konkurrenz rückt der Tag heran, wo die heilige Ilios [Troia] hinsinkt, wo die herrliche preußische Schnapsindustrie vom Weltmarkt verschwindet und höchstens noch den innern Markt befuselt. Aber an dem Tage, wo den preußischen Junkern der Destillierhelm entwunden wird und ihnen nur noch der Wappenhelm oder höchstens der Armeehelm bleibt – an dem Tage ist es aus mit Preußen. Sehen wir ganz ab vom übrigen Gang der Weltgeschichte, von der Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Unvermeidlichkeit neuer Kriege oder Umwälzungen – die russische Schnapskonkurrenz allein muß Preußen ruinieren, indem sie die Industrie vernichtet, die den Ackerbau der östlichen Provinzen auf seiner jetzigen Entwicklungsstufe erhält. Damit vernichtet sie aber auch die Lebensbedingungen der ostelbischen Junker und ihrer 3.000 Hörigen auf die Quadratmeile; und damit vernichtet sie die Grundlage des preußischen Staats: das Material der Offiziere wie der Unteroffiziere und der unbedingt Ordre parierenden Soldaten, dazu das Material des Kerns der Bürokratie, das Material, das dem jetzigen Preußen seinen spezifischen Charakter aufdrückt. Mit dem Sturz der Branntweinbrennerei stürzt der preußische Militarismus, und ohne ihn ist Preußen nichts. Dann werden diese Ostprovinzen in den Rang zurücksinken, der ihnen nach ihrer dünnen Bevölkerung, ihrer unter dem Ackerbau geknechteten Industrie, ihren halbfeudalen Zuständen, ihrem Mangel an bürgerlicher Entwickelung und allgemeiner Bildung in Deutschland zukommt. Dann werden die übrigen Länder des Deutschen Reichs, befreit von dem Druck dieser halbmittelalterlichen Herrschaft, aufatmen und die ihnen nach ihrer industriellen Entwickelung und fortgeschritteneren Bildung zukommende Stellung einnehmen. Die Ostprovinzen selbst werden sich andere, weniger vom Ackerbau abhängige und weniger feudalen Betrieb zulassende Industrien aussuchen und in der Zwischenzeit, statt dem preußischen Staat, der Sozialdemokratie ihre Armee zuführen. Die ganze übrige Welt wird jubeln, daß es mit der preußischen Fuselölvergiftung endlich einmal zu Ende ist; die preußischen Junker und der dann endlich »in Deutschland aufgegangene« preußische Staat aber werden sich trösten müssen mit den Worten des Dichters:

Was unsterblich im Gesang soll leben,

Muß im Leben untergehn.

erschienen in: »Der Volksstaat«, Nr. 23 ff. (25./27. Februar, 1. März 1883)

drucken | zurückblättern | nach oben | Startseite


words provided by vulture-bookz.de | no legal rights claimed

html code & design by krischn, © 2003