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Engels ~ Zum Tode von Karl Marx


geschrieben Ende April und Anfang Mai 1883

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FRIEDRICH ENGELS

Zum Tode von Karl Marx

I

Es sind mir nachträglich noch einige Kundgebungen bei Gelegenheit dieses Trauerfalles zugekommen, die beweisen, wie allgemein die Teilnahme war, und über die ich Rechenschaft abzulegen habe.

Am 20. März erhielt Fräulein Eleanor Marx von der Redaktion der »Daily News« folgendes Telegramm in französischer Sprache zugesandt:

»Moskau, 18. März. Redaktion, ›Daily News‹, London. Haben Sie die Güte, an Herrn Engels, den Verfasser der ›Arbeitenden Klassen in England‹ und intimen Freund des verstorbenen Karl Marx, unsere Bitte zu übermitteln, er möge auf den Sarg des unvergeßlichen Autors des ›Kapital‹ einen Kranz legen mit folgender Inschrift:

›Dem Verteidiger der Rechte der Arbeiter in der Theorie und ihrer Verwirklichung im Leben – die Studenten der landwirtschaftlichen Akademie von Petrowski in Moskau.‹

Herr Engels wird gebeten, seine Adresse und den Preis des Kranzes mitzuteilen; der Betrag wird ihm sofort übermittelt werden.

Studenten der Akademie Petrowski in Moskau.«

Die Depesche war unter allen Umständen zu spät für das am 17. stattgefundene Begräbnis.

Ferner sandte mir Freund P. Lawrow in Paris am 31. März eine Anweisung auf Frs. 124,50 = Pfd.St. 4.18.9, eingesandt von den Studenten des technologischen Instituts in Petersburg und von russischen studierenden Frauen, ebenfalls für einen Kranz auf das Grab von Karl Marx.

Drittens hat der »Sozialdemokrat« vorige Woche angezeigt, daß Odessaer Studenten ebenfalls einen Kranz auf Marx' Grab in ihrem Namen niedergelegt wünschen.

Da nun das aus Petersburg erhaltene Geld reichlich für alle drei Kränze genügt, so habe ich mir erlaubt, auch den Moskauer und Odessaer Kranz daraus zu bestreiten. Die Anfertigung der Inschriften, hier eine ziemlich ungewohnte Sache, hat einige Verschleppung verursacht, doch wird die Niederlegung Anfang nächster Woche stattfinden, und werde ich alsdann im »Sozialdemokrat« Rechnung über das erhaltene Geld ablegen können.

Von Solingen kam durch den hiesigen Kommunistischen Arbeiterbildungsverein an uns ein schöner großer Kranz »auf das Grab von Karl Marx von den Arbeitern der Scheren-, Messer- und Schwerter-Industrie in Solingen«. Als wir ihn am 24. März niederlegten, fanden wir von den Kränzen vom »Sozialdemokrat« und vom Kommunistischen Arbeiterbildungsverein die langen Ende der seidenen roten Schleifen von grabschänderischer Hand abgeschnitten und gestohlen. Beschwerde beim Verwaltungsrat half nichts, wird aber wohl Schutz für die Zukunft schaffen.

Ein slawischer Verein in der Schweiz hofft,

»daß dem Andenken von Karl Marx durch Gründung eines seinen Namen führenden internationalen Fonds zur Unterstützung der Opfer des großen Emanzipationskampfes sowie zur Förderung dieses Kampfes selbst, ein besonderes Erinnerungszeichen gesetzt«

werde, und sendet einen ersten Beitrag ein, den ich einstweilen an mir behalten habe. Das Schicksal dieses Vorschlags hängt natürlich in erster Linie davon ab, ob er Anklang findet, und deshalb veröffentliche ich ihn hier.

Um den in den Zeitungen umlaufenden falschen Gerüchten etwas Tatsächliches entgegenzusetzen, teile ich folgende kurze Einzelheiten mit über Krankheitsverlauf und Tod unseres großen theoretischen Führers.

Von alten Leberleiden durch dreimalige Kur in Karlsbad fast ganz kuriert, litt Marx nur noch an chronischen Magenleiden und nervöser Abspannung, die sich in Kopfschmerz, zumeist aber in hartnäckiger Schlaflosigkeit äußerte. Beide Leiden verschwanden mehr oder weniger nach dem Besuch eines Seebades oder Luftkurortes im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder störender an den Tag. Chronische Halsleiden, Husten, der ebenfalls zur Schlaflosigkeit beitrug, und chronische Bronchitis störten im ganzen weniger. Aber gerade hieran sollte er erliegen. Vier oder fünf Wochen vor dem Tode seiner Frau ergriff ihn plötzlich eine heftige Rippenfellentzündung (Pleuritis), verbunden mit Bronchitis und anfangender Lungenentzündung (Pneumonie). Die Sache war sehr gefährlich, verlief aber gut. Er wurde dann zuerst nach der Insel Wight geschickt (Anfang 1882) und darauf nach Algier. Die Reise war kalt, und er kam mit einer neuen Pleuritis in Algier an. Das hätte nicht so sehr viel ausgemacht unter Durchschnittsumständen. Aber Winter und Frühjahr waren in Algier kalt und regnerisch wie sonst nie, im April machte man vergebens Versuche, den Speisesaal zu heizen! So war Verschlimmerung des Gesamtzustandes statt Verbesserung das Schlußresultat.

Von Algier nach Monte Carlo (Monaco) geschickt, kam Marx infolge naßkalter Überfahrt mit einer dritten, jedoch gelinderen Pleuritis dort an. Dabei anhaltend schlechtes Wetter, das er speziell von Afrika mitgebracht zu haben schien. Also auch hier Kampf mit neuer Krankheit statt Stärkung. Gegen Sommersanfang ging er zu seiner Tochter, Frau Longuet, in Argenteuil und benutzte von da aus die Schwefelbäder des benachbarten Enghien gegen seine chronische Bronchitis. Trotz des andauernd nassen Sommers gelang die Kur, zwar langsam, aber doch zur Zufriedenheit der Ärzte. Diese schickten ihn nun nach Vevey am Genfer See, und da erholte er sich am meisten, so daß man ihm den Winteraufenthalt, zwar nicht in London, aber doch an der englischen Südküste erlaubte. Hier wollte er dann endlich seine Arbeiten wieder beginnen. Als er im September nach London kam, sah er gesund aus und erstieg den Hügel von Hampstead (zirka 300 Fuß höher als seine Wohnung) oft mit mir ohne Beschwerde. Als die Novembernebel drohten, wurde er nach Ventnor, der Südspitze der Insel Wight, geschickt. Sofort wieder nasses Wetter und Nebel; notwendige Folge: erneuerte Erkältung, Husten usw., kurz, schwächender Stubenarrest statt stärkender Bewegung in freier Luft. Da starb Frau Longuet. Am nächsten Tage (12. Januar) kam Marx nach London, und zwar mit entschiedener Bronchitis. Bald gesellte sich dazu eine Kehlkopfentzündung, die ihm das Schlucken fast unmöglich machte. Er, der die größten Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wußte, trank lieber einen Liter Milch (die ihm sein Lebetag ein Greuel gewesen), als daß er die entsprechende feste Nahrung verzehrte. Im Februar entwickelte sich ein Geschwür in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf diesen seit fünfzehn Monaten mit Medizin überfüllten Körper; was sie bewirkten, war höchstens Schwächung des Appetits und der Verdauungstätigkeit. Er magerte sichtbar ab, fast von Tag zu Tag. Trotzdem verlief die Gesamtkrankheit verhältnismäßig günstig. Die Bronchitis war fast gehoben, das Schlucken wurde leichter. Die Ärzte machten die besten Hoffnungen. Da finde ich – zwischen 2 und 3 war die beste Zeit, ihn zu sehen – plötzlich das Haus in Tränen: Er sei so schwach, es gehe wohl zu Ende. Und doch hatte er den Morgen noch Wein, Milch und Suppe mit Appetit genommen. Das alte treue Lenchen Demuth, die alle seine Kinder von der Wiege an erzogen und seit vierzig Jahren im Hause ist, geht herauf zu ihm, kommt gleich herunter: »Kommen Sie mit, er ist halb im Schlaf.« Als wir eintraten, war er ganz im Schlaf, aber für immer. Einen sanfteren Tod, als Karl Marx in seinem Armsessel fand, kann man sich nicht wünschen.

Und nun zum Schluß noch eine gute Nachricht:

Das Manuskript zum zweiten Band des »Kapital« ist vollständig erhalten. Wieweit es in der vorliegenden Form druckfähig ist, kann ich noch nicht beurteilen, es sind über 1.000 Seiten Folio. Aber »der Zirkulationsprozeß des Kapitals« wie »die Gestaltungen des Gesamtprozesses« sind in einer Bearbeitung abgeschlossen, die den Jahren 1867-1870 angehört. Der Anfang einer späteren Bearbeitung liegt vor sowie reiches Material in kritischen Auszügen, besonders über russische Grundeigentumsverhältnisse, woraus vielleicht noch manches benutzbar wird.

Durch mündliche Verfügung hat er seine jüngste Tochter Eleanor und mich zu seinen literarischen Exekutoren ernannt.

London, 28. April 1883 Friedrich Engels

II

Von den Sozialdemokraten Erfurts kam ein schöner Kranz mit Inschrift auf roten Schleifen nach Argenteuil; glücklicherweise fand sich jemand, ihn gelegentlich herüberzubringen; als er auf dem Grabe niedergelegt wurde, waren die roten Seidenbänder des Solinger Kranzes wieder gestohlen.

Die drei Kränze für Moskau, Petersburg und Odessa wurden inzwischen auch fertig. Um den Diebstahl der Schleifen zu verhindern, waren wir genötigt, die Bänder durch kleine Einschnitte am Rande zu fernerem Gebrauch unnütz zu machen. Die Niederlegung fand gestern statt. Die Erfurter Schleife war durch einen Regenschauer für andere Zwecke verdorben und so der Dieberei entgangen.

Diese drei Kränze kosteten jeder Pfd.St. 1.1.8, also zusammen Pfd.St. 3.5.0. Es bleiben also von den mir eingesandten Pfd.St. 4.18.9 noch Pfd.St. 1.13.9, die ich an P. Lawrow zurücksende, um damit nach dem Willen der Geber zu verfahren. –

Der Tod eines großen Mannes ist eine vortreffliche Gelegenheit für kleine Leute, politisches, literarisches und bares Kapital herauszuschlagen. Hier nur ein paar Beispiele, die der Öffentlichkeit angehören; von den vielen, die sich auf dem Gebiete der Privatkorrespondenz abgespielt haben, gar nicht zu sprechen.

Philipp Van Patten, Sekretär der Central Labor Union in New York, schrieb mir (d. d. 2. April) folgendes:

»In Verbindung mit der neulichen Demonstration zu Ehren von Karl Marx, als alle Fraktionen sich vereinigten, dem verstorbenen Denker ihre Ehrerbietung zu bezeugen, machten Johann Most und seine Freunde sehr laute Behauptungen, daß er, Most, mit Karl Marx intim gewesen wäre. daß er dessen Werk ›Das Kapital‹ in Deutschland populär gemacht habe und daß Marx übereinstimme mit der von Most geleiteten Propaganda.

Wir haben eine hohe Meinung von den Talenten und dem Wirken von Marx; wir können aber nicht glauben, daß er sympathisierte mit der anarchistischen, desorganisierenden Denk- und Handlungsweise von Most. Ich möchte deshalb von Ihnen eine Meinungsäußerung haben über die Stellung von Marx zur Frage: Anarchie und Sozialdemokratie? Das unzeitige und alberne Geschwätz von Most hat schon zu viel Verwirrung gestiftet, und es ist recht unangenehm für uns, hören zu müssen, daß eine so hohe Autorität wie Marx solche Taktik billigte.«

Ich antwortete darauf am 18. April, was in deutscher Übersetzung hier folgt:

»Meine Antwort auf Ihre Anfrage vom 2, April wegen Karl Marx' Stellung zu den Anarchisten im allgemeinen und Johann Most im besonderen soll kurz und klar sein:

Marx und ich haben, seit 1845, die Ansicht gehabt, daß eine der schließlichen Folgen der künftigen proletarischen Revolution sein wird die allmähliche Auflösung der mit dem Namen Staat bezeichneten politischen Organisation. Der Hauptzweck dieser Organisation war von jeher die Sicherstellung, durch bewaffnete Gewalt, der ökonomischen Unterdrückung der arbeitenden Mehrzahl durch die ausschließlich begüterte Minderzahl. Mit dem Verschwinden einer ausschließlich begüterten Minderzahl verschwindet auch die Notwendigkeit einer bewaffneten Unterdrückungs- oder Staatsgewalt. Gleichzeitig aber war es immer unsere Ansicht, daß, um zu diesem und den anderen weit wichtigeren Zielen der künftigen sozialen Revolution zu gelangen, die Arbeiterklasse zuerst die organisierte politische Gewalt des Staates in Besitz nehmen und mit ihrer Hilfe den Widerstand der Kapitalistenklasse niederstampfen und die Gesellschaft neu organisieren muß. Dies ist bereits zu lesen im ›Kommunistischen Manifest‹ von 1848, Kapitel II, Schluß.

Die Anarchisten stellen die Sache auf den Kopf. Sie erklären, die proletarische Revolution müsse damit anfangen, daß sie die politische Organisation des Staates abschafft. Aber die einzige Organisation, die das Proletariat nach seinem Siege fertig vorfindet, ist eben der Staat. Dieser Staat mag sehr bedeutender Änderungen bedürfen, ehe er seine neuen Funktionen erfüllen kann. Aber ihn in einem solchen Augenblick zerstören, das hieße, den einzigen Organismus zerstören, vermittelst dessen das siegende Proletariat seine eben eroberte Macht geltend machen, seine kapitalistischen Gegner niederhalten und diejenige ökonomische Revolution der Gesellschaft durchsetzen kann, ohne die der ganze Sieg enden müßte in einer neuen Niederlage und in einer Massenabschlachtung der Arbeiter, ähnlich derjenigen nach der Pariser Kommune.

Braucht es meine ausdrückliche Versicherung, daß Marx diesem anarchistischen Blödsinn entgegentrat seit dem ersten Tag, wo er in seiner jetzigen Gestalt von Bakunin vorgebracht wurde? Die ganze innere Geschichte der Internationalen Arbeiter-Assoziation bezeugt es. Seit 1867 versuchten die Anarchisten, mit den infamsten Mitteln, die Führung der Internationale zu erobern; das Haupthindernis in ihrem Wege war Marx. Das Ende des fünfjährigen Kampfes war, auf dem Haager Kongreß, September 1872, die Ausstoßung der Anarchisten aus der Internationale; und der Mann, der am meisten tat, diese Ausstoßung durchzusetzen, war Marx. Unser alter Freund, F. A. Sorge in Hoboken, der als Delegierter zugegen war, kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, nähere Einzelheiten mitteilen.

Und nun zu Johann Most.

Wenn irgend jemand behauptet, daß Most, seit er Anarchist geworden, mit Marx in irgendwelcher Beziehung gestanden oder irgendwelche Beihilfe von Marx erhalten habe, der ist entweder belogen oder ein Lügner mit Vorbedacht. Nach dem Erscheinen der ersten Nummer der Londoner ›Freiheit‹ hat Most Marx oder mich nicht mehr als einmal, höchstens zweimal besucht. Ebensowenig gingen wir zu ihm – wir haben ihn nicht einmal irgendwie oder irgendwann zufällig getroffen. Wir haben zuletzt uns sogar gar nicht mehr auf sein Blatt abonniert, weil ›wirklich auch gar nichts‹ darin stand. Für seinen Anarchismus und seine anarchistische Taktik hatten wir dieselbe Verachtung wie für die Leute, von denen er beides gelernt hatte.

Als er noch in Deutschland war, veröffentlichte Most einen populären Auszug aus Marx ›Kapital‹. Marx wurde ersucht, ihn für eine zweite Auflage durchzusehen. Ich tat diese Arbeit gemeinsam mit Marx. Wir fanden, daß es unmöglich war, mehr als die allerschlimmsten Böcke von Most auszumerzen, wollten wir nicht das ganze Ding von Anfang bis Ende neu schreiben. Marx erlaubte auch bloß, daß seine Verbesserungen hineingesetzt würden auf die ausdrückliche Bedingung hin, daß sein Name nie in irgendeine Verbindung gebracht würde selbst mit dieser verbesserten Ausgabe von Johann Mosts Machwerk.

Sie können diesen Brief veröffentlichen, wenn es Ihnen so beliebt.«

Von Amerika nach Italien.

Vor etwa zwei Jahren schickte ein junger Italiener, Herr Achille Loria aus Mantua, ein von ihm verfaßtes Buch über Grundrente an Marx nebst einem deutsch geschriebenen Brief, worin er sich als dessen Schüler und Bewunderer kundgab; er korrespondierte auch noch einige Zeit mit ihm. Sommer 1882 kam er nach London und besuchte mich zweimal; das zweite Mal kam ich in den Fall, ihm ernstlich meine Meinung darüber zu sagen, daß er in einer inzwischen erschienenen Broschüre Marx den Vorwurf gemacht, er habe wissentlich falsch zitiert.

Jetzt schreibt dies bei den deutschen Kathedersozialisten seine Weisheit geholt habende Männlein einen Artikel über Marx in die »Nuova Antologia« und hat die Unverschämtheit, mir, »seinem hochverehrten Freunde«(!), einen Sonderabdruck einzuschicken. Worin die Unverschämtheit bestand, wird folgende Übersetzung meiner Antwort zeigen (ich schrieb ihm in seiner Sprache, denn sein Deutsch ist immer noch wackeliger als mein Italienisch):

»Ich habe Ihr Schriftchen über Karl Marx erhalten. Es steht Ihnen frei, seine Lehren Ihrer allerschärfsten Kritik zu unterwerfen und sie sogar mißzuverstehen; es steht Ihnen frei, eine Biographie von Marx zu entwerfen, die ein reines Phantasiestück ist. Was Ihnen aber nicht freisteht und was ich nie irgendwem erlauben werde, das ist, den Charakter meines toten Freundes zu verleumden.

Schon in einem früheren Werk hatten Sie sich herausgenommen, Marx anzuklagen, er habe absichtlich falsch zitiert. Als Marx dies gelesen, verglich er seine und Ihre Zitate mit den Originalen und sagte mir, seine Zitate seien richtig, und wenn hier jemand absichtlich falsch zitiere, so seien Sie es. Und wenn ich sehe, wie Sie jetzt Marx zitieren, wie Sie die Schamlosigkeit haben, ihn von ›Profit‹ sprechen zu lassen, da, wo er von ›Mehrwert‹ spricht – wo er sich doch wiederholt gegen den Irrtum verwahrt, als ob das beides dasselbe sei – (was übrigens Herr Moore und ich Ihnen bereits hier in London mündlich auseinandersetzten), so weiß ich, wem ich zu glauben habe und wer absichtlich falsch zitiert.

Aber das ist nur eine Lappalie, verglichen mit Ihrer ›festen und tiefen Überzeugung …, daß sie alle‹ (die Lehren von Marx) ›beherrscht sind von einem bewußten Sophisma‹ [Sophismus = Scheinbeweis, absichtlicher Trugschluss]; daß Marx ›sich nicht aufhalten ließ durch falsche Schlüsse, wohl wissend, daß sie falsch waren‹ daß »er oftmals ein Sophist war, der auf Kosten der Wahrheit bei der Negation der bestehenden Gesellschaft ankommen wollte«, und daß er, wie Lamartine sagt, »mit Lügen und Wahrheiten spielte wie Kinder mit Knöcheln«.

In Italien, das ein Land antiker Zivilisation ist, kann das vielleicht für ein Kompliment gelten. Auch unter den Kathedersozialisten gilt so etwas möglicherweise für ein großes Lob, da ja diese braven Professoren ihre zahllosen Systeme nie anders hätten zuwege bringen können, als »auf Kosten der Wahrheit«. Wir revolutionäre Kommunisten sehen die Sache anders an. Wir betrachten solche Behauptungen als infamierende Anklagen, und da wir wissen, daß sie erlogen sind, schleudern wir sie zurück auf ihren Urheber, der, selbst und allein, sich infamiert hat durch solche Erfindungen.

Mir scheint, es sei Ihre Pflicht gewesen, dem Publikum mitzuteilen, worin denn dieses berühmte »bewußte Sophisma« eigentlich besteht, das alle Lehren von Marx beherrscht. Aber ich suche es vergebens. Nagott! [lombardischer Kraftausdruck für: gar nichts.]

Welche Zwergseele gehört dazu, sich einzubilden, ein Mann wie Marx habe »seinen Gegnern immer mit einem zweiten Bande gedroht«, den zu schreiben »ihm auch nicht für einen Augenblick einfiel«; daß dieser zweite Band nichts sei als »ein pfiffiges Auskunftsmittel von Marx, womit er wissenschaftlichen Argumenten aus dem Wege ging«. Dieser zweite Band liegt vor und wird in kurzem veröffentlicht. Dann werden Sie vielleicht auch endlich den Unterschied zwischen Mehrwert und Profit begreifen lernen.

Eine deutsche Übersetzung dieses Briefes wird in der nächsten Nummer des Züricher »Sozialdemokrat« erscheinen.

Ich habe die Ehre, Sie zu grüßen mit allen den Gefühlen, welche Sie verdienen.«

Hiermit genug für heute.

London, 12. Mai 1883 Friedrich Engels

erschienen in »Der Sozialdemokrat«, Nr. 19 und 21 (3. und 17. Mai 1883)

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