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Engels ~ Die englische Zehnstundenbill |
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geschrieben Anfang April 1850 |
Die englischen Arbeiter haben eine bedeutende Niederlage erlitten und von einer Seite, von der sie sie am wenigsten erwarteten. Der Court of Exchequer, einer der vier höchsten Gerichtshöfe Englands, hat vor einigen Wochen ein Urteil gefällt, wodurch die Hauptbestimmungen der im Jahre 1847 erlassenen Zehnstundenbill so gut wie abgeschafft werden.
Die Geschichte der Zehnstundenbill bietet ein frappantes Beispiel für die eigentümliche Entwickelungsweise der Klassengegensätze in England und verdient daher ein näheres Eingehen.
Man weiß, wie mit dem Aufkommen der großen Industrie eine ganz neue, grenzenlos unverschämte Exploitation [Ausbeutung] der Arbeiterklasse durch die Fabrikbesitzer aufkam. Die neuen Maschinen machten die Arbeit erwachsener Männer überflüssig; sie erforderten zu ihrer Beaufsichtigung Weiber und Kinder, die zu diesem Geschäft weit geeigneter und zugleich wohlfeiler zu haben waren als die Männer. Die industrielle Exploitation bemächtigte sich also sofort der ganzen Arbeiterfamilie und sperrte sie in die Fabrik; Weiber und Kinder mußten Tag und Nacht unaufhörlich arbeiten, bis die vollständigste physische Abmattung sie niederwarf. Die Armenkinder der workhouses wurden bei der steigenden Nachfrage nach Kindern ein vollständiger Handelsartikel; vom vierten, ja vom dritten Jahre an wurden sie schockweise in der Form von Lehrkontrakten an den meistbietenden Fabrikanten versteigert. Die Erinnerung an die schamlos-brutale Exploitation von Kindern und Weibern in jener Zeit, eine Exploitation, die nicht nachließ, solange noch eine Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten war, ist noch sehr lebendig unter der älteren Arbeitergeneration Englands, und mancher von ihnen trägt diese Erinnerung in der Gestalt einer Rückenverkrümmung oder eines verstümmelten Gliedes, alle tragen sie ihre durch und durch ruinierte Gesundheit mit sich herum. Das Los der Sklaven in den schlimmsten amerikanischen Pflanzungen war golden im Vergleich mit dem der englischen Arbeiter jener Zeit.
Schon früh mußten von Staats wegen Maßregeln getroffen werden, um die vollständig rücksichtslose Exploitationswut der Fabrikanten zu zügeln, die alle Bedingungen der zivilisierten Gesellschaft mit Füßen trat. Diese ersten gesetzlichen Beschränkungen waren indes höchst unzureichend und wurden bald umgangen. Erst ein halbes Jahrhundert nach Einführung der großen Industrie, als der Strom der industriellen Entwicklung ein regelmäßiges Bett gefunden hatte, erst 1833 war es möglich, ein wirksames Gesetz zustande zu bringen das wenigstens den schreiendsten Exzessen einigen Einhalt tat.
Schon seit dem Anfang dieses Jahrhunderts hatte sich unter der Leitung einiger Philanthropen eine Partei gebildet, die die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit in den Fabriken auf zehn Stunden täglich forderte. Diese Partei, die in den zwanziger Jahren unter Sadlers und nach seinem Tode unter Lord Ashleys und R. Oastlers Leitung ihre Agitation bis zur wirklichen Durchführung der Zehnstundenbill fortsetzte, vereinigte allmählich, außer den Arbeitern selbst, die Aristokratie und alle den Fabrikanten feindlichen Fraktionen der Bourgeoisie unter ihrer Fahne. Diese Assoziation der Arbeiter mit den heterogensten und reaktionärsten Elementen der englischen Gesellschaft machte es nötig, daß die Zehnstundenagitation ganz außerhalb der revolutionären Arbeiteragitation geführt wurde. Die Chartisten waren zwar bis auf den letzten Mann für die Zehnstundenbill; sie machten die Masse, den Chor in allen Zehnstundenmeetings; sie stellten ihre Presse dem Zehnstundenkomitee zur Verfügung. Aber nicht ein einziger Chartist agitierte in offizieller Gemeinschaft mit den aristokratischen und bürgerlichen Zehnstundenmännern oder saß im Zehnstundenkomitee (Short-Time-Committee) in Manchester. Dies Komitee bestand ausschließlich aus Arbeitern und Fabrikaufsehern. Aber diese Arbeiter waren vollständig gebrochene, mattgearbeitete Charaktere. stille, gottselige und ehrbare Leute, die vor dem Chartismus und Sozialismus einen heiligen Abscheu hatten, Thron und Altar in gebührendem Respekt hielten und die, zu matt, um die industrielle Bourgeoisie zu hassen, nur noch fähig waren zur demütigen Verehrung der Aristokratie, die wenigstens für ihr Elend sich zu interessieren geruhte. Der Arbeitertorysmus dieser Zehnstundenleute war der Nachhall jener ersten Opposition der Arbeiter gegen den industriellen Fortschritt, die den alten patriarchalischen Zustand wiederherzustellen suchte und deren energischste Lebensäußerung nicht über das Zerschlagen von Maschinen hinausging. Ebenso reaktionär wie diese Arbeiter waren die bürgerlichen und aristokratischen Chefs der Zehnstundenpartei. Sie waren ohne Ausnahme sentimentale Tories, meist schwärmerische Ideologen, die in der Erinnerung an die verlorene patriarchalische Winkelexploitation mit ihrem Gefolge von Frömmigkeit, Häuslichkeit, Tugend und Borniertheit, mit ihren stabilen, traditionell-vererbten Zuständen schwelgten. Ihr enger Schädel wurde vom Schwindel erfaßt beim Anblick des industriellen Revolutionsstrudels. Ihr kleinbürgerliches Gemüt entsetzte sich vor den neuen, zauberhaft-plötzlich emporwachsenden Produktivkräften, die die allerehrwürdigsten, unantastbarsten, wesentlichsten Klassen der bisherigen Gesellschaft in wenig Jahren wegschwemmten und durch neue, bisher unbekannte Klassen ersetzten, durch Klassen, deren Interessen, deren Sympathien, deren ganze Lebens- und Anschauungsweise im Widerspruch standen mit den Institutionen der alten englischen Gesellschaft. Diese weichherzigen Ideologen unterließen nicht, vom Standpunkte der Moral, der Humanität und des Mitleids aus gegen die unbarmherzige Härte und Rücksichtslosigkeit zu Felde zu ziehen, womit dieser gesellschaftliche Umwälzungsprozeß sich durchsetzte, und gegenüber diesem Umwälzungsprozeß die Stabilität, die stille Behaglichkeit und Sittsamkeit des verendenden Patriarchalismus als Gesellschaftsideal aufzustellen.
Diesen Elementen schlossen sich in Zeiten, wo die Zehnstundenfrage die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, alle Fraktionen der Gesellschaft an, die durch die industrielle Umwälzung in ihren Interessen verletzt, in ihrer Existenz bedroht wurden. Die Bankiers, die Stockjobbers [Börsenspekulaten], die Reeder und Kaufleute, die Grundaristokratie, die großen westindischen Grundbesitzer, die Kleinbürgerschaft vereinigten sich in solchen Zeiten mehr und mehr unter der Leitung der Zehnstundenagitatoren.
Die Zehnstundenbill bot ein vortreffliches Terrain für diese reaktionären Klassen und Fraktionen, um auf ihm sich mit dem Proletariat gegen die industrielle Bourgeoisie zu verbinden. Während sie die rasche Entwicklung des Reichtums, des Einflusses, der gesellschaftlichen und politischen Macht der Fabrikanten bedeutend hemmte, gab sie den Arbeitern einen bloß materiellen, ja ausschließlich physischen Vorteil. Sie schützte sie vor dem zu schnellen Ruin ihrer Gesundheit. Sie gab ihnen aber nichts, wodurch sie ihren reaktionären Bundesgenossen gefährlich werden konnten; sie gab ihnen weder politische Macht, noch änderte sie ihre gesellschaftliche Stellung als Lohnarbeiter. Im Gegenteil hielt die Zehnstundenagitation die Arbeiter fortwährend unter dem Einfluß und teilweise selbst der Leitung dieser ihrer besitzenden Bundesgenossen, der sie sich seit der Reformbill und dem Aufkommen der Chartistenagitation mehr und mehr zu entziehen trachteten. Es war ganz natürlich, besonders im Anfang der industriellen Umwälzung, daß die Arbeiter, in direktem Kampf nur mit den industriellen Bourgeois, sich an die Aristokratie und die übrigen Fraktionen der Bourgeoisie anschlossen, von denen sie nicht direkt exploitiert wurden und die ebenfalls gegen die industriellen Bourgeois ankämpften. Aber diese Allianz verfälschte die Arbeiterbewegung mit einer starken reaktionären Beimischung, die sich erst nach und nach verliert; sie gab dem reaktionären Element in der Arbeiterbewegung – denjenigen Arbeitern, deren Arbeitszweig noch der Manufaktur angehört und daher vom industriellen Fortschritt selbst bedroht ist, wie z. B. den Handwebern – eine bedeutende Verstärkung.
Ein Glück für die Arbeiter war es daher, daß in jener konfusen Epoche von 1847, wo alle alten parlamentarischen Parteien aufgelöst und die neuen noch gar nicht formiert waren, die Zehnstundenbill endlich durchging. Sie passierte in einer Reihe der verworrensten, scheinbar nur vom Zufall beherrschten Abstimmungen, bei denen mit Ausnahme der entschieden freihändlerischen Fabrikanten auf der einen und der enragiert-protektionistischen Grundbesitzer auf der andern Seite keine Partei geschlossen und konsequent stimmte. Sie passierte als eine Schikane, die die Aristokratie, ein Teil der Peeliten und der Whigs den Fabrikanten anhingen, um für den großen Sieg, den diese in der Abschaffung der Korngesetze errungen, Revanche zu nehmen.
Die Zehnstundenbill gab den Arbeitern nicht nur die Befriedigung eines unumgänglichen physischen Bedürfnisses, indem sie ihre Gesundheit einigermaßen vor der Exploitationswut der Fabrikanten schützte, sie befreite die Arbeiter auch von der Genossenschaft der sentimentalen Schwärmer, von der Solidarität mit sämtlichen reaktionären Klassen Englands. Die patriarchalischen Faseleien eines Oastler, die rührenden Teilnahmeversicherungen eines Lord Ashley fanden keine Zuhörer mehr, seitdem die Zehnstundenbill nicht mehr die Pointe dieser Tiraden bildete. Die Arbeiterbewegung konzentrierte sich erst jetzt ganz auf die Durchführung der politischen Herrschaft des Proletariats als erstes Mittel der Umwälzung der ganzen bestehenden Gesellschaft. Und hier standen ihr die Aristokratie und die reaktionären Fraktionen der Bourgeoisie, soeben noch die Bundesgenossen der Arbeiter, als ebensoviel wütende Feinde, als ebensoviel Bundesgenossen der industriellen Bourgeoisie entgegen.
Durch die industrielle Revolution war die Industrie, kraft deren England den Weltmarkt erobert hatte und unterjocht hielt, zum entscheidenden Produktionszweig für England geworden. England stand und fiel mit der Industrie, hob sich und sank mit ihren Fluktuationen. Mit dem entscheidenden Einfluß der Industrie wurden die industriellen Bourgeois, die Fabrikanten, die entscheidende Klasse in der englischen Gesellschaft, wurde die politische Herrschaft der Industriellen, die Entfernung aller gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die der Entwicklung der großen Industrie im Wege standen, eine Notwendigkeit. Die industrielle Bourgeoisie gab sich ans Werk. Die Geschichte Englands von 1830 bis jetzt ist die Geschichte der Siege, die sie nacheinander über ihre vereinigten reaktionären Gegner errungen hat.
Während die Julirevolution in Frankreich die Finanzaristokratie zur Herrschaft brachte, war die Reformbill in England, die gleich nachher, 1832 durchging, grade der Sturz der Finanzaristokratie. Die Bank, die Nationalgläubiger und Börsenspekulanten, mit einem Wort die Geldhändler, denen die Aristokratie tief verschuldet war, hatten unter dem buntscheckigen Deckmantel des Wahlmonopols bisher fast ausschließlich England beherrscht. Je weiter sich die große Industrie und der Welthandel entwickelten, desto unerträglicher wurde, trotz einzelner Konzessionen, ihre Herrschaft. Die Allianz sämtlicher übrigen Fraktionen der Bourgeoisie mit dem englischen Proletariat und mit den irischen Bauern stürzte sie. Das Volk drohte mit einer Revolution, die Bourgeoisie gab der Bank ihre Noten in Massen zurück und brachte sie an den Rand des Bankerotts. Die Finanzaristokratie gab zur rechten Zeit nach; ihre Nachgiebigkeit ersparte England eine Februarrevolution.
Die Reformbill gab allen besitzenden Klassen des Landes bis zum kleinsten Krämer herab Anteil an der politischen Macht. Allen Fraktionen der Bourgeoisie war damit ein gesetzliches Terrain gegeben, auf dem sie ihre Ansprüche und ihre Macht geltend machen konnten. Dieselben Kämpfe der einzelnen Fraktionen der Bourgeoisie unter sich, die in Frankreich unter der Republik seit dem Junisieg von 1848 geführt werden, sind in England seit der Reformbill im Parlament geführt worden. Es versteht sich, daß bei den ganz verschiedenen Verhältnissen auch die Resultate in beiden Ländern verschieden sind.
Die industrielle Bourgeoisie, hatte sie einmal in der Reformbill sich das Terrain zum parlamentarischen Kampf erobert, konnte nicht anders als Sieg auf Sieg erringen. In der Beschränkung der Sinekuren wurde ihr der aristokratische Schwanz der Finanziers, im Armengesetz von 1833 die Paupers, in der Herabsetzung des Tarifs und der Einführung der Einkommensteuer die Steuerfreiheit der Finanziers und Grundbesitzer geopfert. Mit den Siegen der Industriellen mehrte sich die Zahl ihrer Vasallen. Der Groß- und Kleinhandel wurde ihr tributär. London und Liverpool fielen aufs Knie vor dem Freihandel, dem Messias der Industriellen. Aber mit ihren Siegen wuchsen ihre Bedürfnisse, ihre Ansprüche.
Die moderne große Industrie kann nur bestehn unter der Bedingung, sich fortwährend auszudehnen, fortwährend neue Märkte zu erobern. Die unendliche Leichtigkeit der massenhaftesten Produktion, die unaufhörliche Fortentwicklung und Weiterbildung der Maschinerie, die dadurch bedingte ununterbrochene Verdrängung von Kapitalien und Arbeitskräften zwingt sie dazu. Jeder Stillstand ist hier nur der Anfang des Ruins. Aber die Ausdehnung der Industrie ist bedingt durch die Ausdehnung der Märkte. Und da die Industrie auf ihrer heutigen Höhe der Entwicklung ihre Produktivkräfte unverhältnismäßig rascher vermehrt, als sie ihre Märkte vermehren kann, so entstehen jene periodischen Krisen, in denen aus Überfülle an Produktionsmitteln und Produkten die Zirkulation im kommerziellen Körper plötzlich ins Stocken gerät und Industrie und Handel fast gänzlich stillstehn, bis das Übermaß von Produkten durch neue Kanäle seinen Abfluß gefunden hat. England ist der Brennpunkt dieser Krisen, deren lähmende Wirkung unfehlbar die entferntesten, verborgensten Winkel des Weltmarkts erreicht und überall einen bedeutenden Teil der industriellen und kommerziellen Bourgeoisie in den Ruin hinabzieht. In solchen Krisen, die übrigens allen Teilen der englischen Gesellschaft ihre Abhängigkeit von den Fabrikanten aufs handgreiflichste zu erkennen geben, gibt es nur ein Rettungsmittel: Ausdehnung der Märkte, sei es durch Eroberung neuer, sei es durch gründlichere Ausbeutung der alten. Abgesehn von den wenigen Ausnahmsfällen, in denen, wie 1842 China, ein bisher hartnäckig verschlossener Markt durch Waffengewalt gesprengt wird, gibt es nur ein Mittel, auf industriellem Wege sich neue Märkte zu eröffnen und die alten gründlicher auszubeuten: durch wohlfeilere Preise, d. h. durch Verringerung der Produktionskosten. Die Produktionskosten werden verringert durch neue, vollkommnere Produktionsweisen, durch Verminderung des Profits oder durch Verminderung des Arbeitslohns. Aber die Einführung vervollkommneter Produktionsweisen kann nicht aus der Krise retten, weil sie die Produktion vermehrt, also selbst neue Märkte nötig macht. Von Herabsetzung des Profits kann in der Krise keine Rede sein, wo jeder froh ist, selbst mit Verlust zu verkaufen. Ebenso mit dem Arbeitslohn, der zudem, wie der Profit, nach Gesetzen sich bestimmt, die von dem Wollen oder Meinen der Fabrikanten unabhängig sind. Und doch bildet der Arbeitslohn den Hauptbestandteil der Produktionskosten, und seine dauernde Herabsetzung ist das einzige Mittel zur Ausdehnung der Märkte und zur Rettung aus der Krise. Der Arbeitslohn wird aber fallen, wenn die Lebensbedürfnisse des Arbeiters wohlfeiler hergestellt werden. Die Lebensbedürfnisse des Arbeiters waren aber in England verteuert durch die Schutzzölle auf Getreide, englische Kolonialprodukte etc. und durch die indirekten Steuern.
Daher die anhaltende, heftige, allgemeine Agitation der Industriellen für den Freihandel und namentlich für die Aufhebung der Kornzölle. Daher das bezeichnende Faktum, daß von 1842 an jede Handels- und Industriekrisis ihnen einen neuen Sieg brachte. In der Aufhebung der Kornzölle wurden ihnen die englischen Grundbesitzer, in der Aufhebung der Differentialzölle auf Zucker etc. die Grundbesitzer der Kolonien, in der Aufhebung der Navigationsgesetze die Reeder geopfert. In diesem Augenblick agitieren sie für Beschränkung der Staatsausgaben und Vermindrung der Steuern sowie für Zulassung des Teils der Arbeiter zum Wahlrecht, der am meisten Garantien bietet. Sie wollen neue Bundesgenossen ins Parlament ziehn, um desto schneller die direkte politische Herrschaft sich zu erobern, durch die allein sie mit den sinnlos gewordenen, aber sehr kostbaren traditionellen Anhängseln der englischen Staatsmaschine, mit der Aristokratie, der Kirche, den Sinekuren, der halbfeudalen Jurisprudenz, fertig werden können. Es ist unzweifelhaft, daß die gerade jetzt sehr nahe bevorstehende neue Handelskrisis, die allem Anschein nach mit neuen und großartigen Kollisionen auf dem Kontinent zusammenfällt, mindestens diesen Fortschritt in der englischen Entwicklung herbeiführen wird.
Mitten unter diesen ununterbrochenen Siegen der industriellen Bourgeoisie gelang es den reaktionären Fraktionen, ihr die Fessel der Zehnstundenbill anzuschmieden. Die Zehnstundenbill ging durch in einem Moment, der weder der der Prosperität noch der der Krise war, in einer jener Zwischenepochen, in denen die Industrie noch hinreichend an den Folgen der Überproduktion laboriert, um nur einen Teil ihrer Ressourcen in Bewegung setzen zu können, in denen die Fabrikanten also selbst nicht die volle Zeit arbeiten lassen. In einem solchen Moment, wo die Zehnstundenbill die Konkurrenz unter den Fabrikanten selbst beschränkte, in einem solchen Moment allein war sie erträglich. Aber dieser Moment machte bald einer erneuerten Prosperität Platz. Die leergekauften Märkte verlangten neue Zufuhren; die Spekulation erhob sich wieder und verdoppelte die Nachfrage; die Fabrikanten konnten nicht genug arbeiten. Jetzt wurde die Zehnstundenbill für die mehr als je der vollsten Unabhängigkeit der uneingeschränktesten Verfügung über all ihre Ressourcen bedürftige Industrie eine unerträgliche Fessel. Was sollte aus den Industriellen während der nächsten Krisis werden, wenn man ihnen nicht gestattete, die kurze Periode der Prosperität mit allen Kräften zu exploitieren? Die Zehnstundenbill mußte fallen. War man noch nicht stark genug, sie im Parlament widerrufen zu lassen, so mußte man suchen, sie zu umgehn.
Die Zehnstundenbill beschränkte die Arbeitszeit der jungen Leute unter 18 Jahren und aller weiblichen Arbeiter auf zehn Stunden täglich. Da diese und die Kinder die entscheidende Klasse von Arbeitern in den Fabriken sind, so war die notwendige Folge, daß die Fabriken überhaupt nur zehn Stunden täglich arbeiten konnten. Die Fabrikanten jedoch, als die Prosperität ihnen eine Vermehrung der Arbeitsstunden zum Bedürfnis machte, fanden einen Ausweg. Wie bisher bei den Kindern unter 14 Jahren, deren Arbeitszeit noch mehr beschränkt ist, engagierten sie einige Weiber und junge Leute mehr als bisher zur Aushülfe und Ablösung. So konnten sie ihre Fabriken und ihre erwachsenen Arbeiter dreizehn, vierzehn, fünfzehn Stunden arbeiten lassen, ohne daß ein einziges der unter die Zehnstundenbill fallenden Individuen mehr als zehn Stunden täglich gearbeitet hätte. Dies war teilweise dem Buchstaben, noch mehr aber dem ganzen Geist des Gesetzes und der Absicht der Gesetzgeber entgegen; die Fabrikinspektoren klagten, die Friedensrichter waren uneinig und urteilten verschieden. Je höher die Prosperität stieg, desto lauter reklamierten die Industriellen gegen die Zehnstundenbill und gegen die Eingriffe der Fabrikinspektoren. Der Minister des Innern, Sir G. Grey, gab den Inspektoren Befehl, das Ablösungssystem (relay oder shift system [Schichtsystem]) zu tolerieren. Aber viele von ihnen, auf das Gesetz gestützt, ließen sich dadurch nicht stören. Endlich wurde ein eklatanter Fall bis vor den Court of Exchequer gebracht, und dieser sprach sich zugunsten der Fabrikanten aus. Mit dieser Entscheidung ist die Zehnstundenbill faktisch abgeschafft, und die Fabrikanten sind wieder vollständig die Herren ihrer Fabriken geworden; sie können in der Krise zwei, drei oder sechs Stunden, in der Prosperität dreizehn bis fünfzehn Stunden arbeiten, und der Fabrikinspektor darf sich nicht mehr einmischen.
War die Zehnstundenbill hauptsächlich von Reaktionären vertreten und ausschließlich von reaktionären Klassen durchgesetzt worden, so sehen wir hier, daß sie in der Weise, wie sie durchgesetzt wurde, eine durchaus reaktionäre Maßregel war. Die ganze gesellschaftliche Entwicklung Englands ist gebunden an die Entwicklung, an den Fortschritt der Industrie. Alle Institutionen, die diesen Fortschritt hemmen, die ihn beschränken oder nach außer ihm liegenden Maßstäben regeln und beherrschen wollen, sind reaktionär, sind unhaltbar und müssen ihm erliegen. Die revolutionäre Kraft, die so spielend mit der ganzen patriarchalischen Gesellschaft des alten Englands, mit der Aristokratie und der Finanzbourgeoisie fertig geworden ist, wird sich wahrlich nicht in das gemäßigte Bett der Zehnstundenbill eindämmen lassen. Alle Versuche Lord Ashleys und seiner Genossen, die gefallene Bill durch eine authentische Erklärung wiederherzustellen, werden fruchtlos sein oder im günstigsten Fall nur ein ephemeres Scheinresultat erlangen.
Und dennoch ist für die Arbeiter die Zehnstundenbill unentbehrlich. Sie ist eine physische Notwendigkeit für sie. Ohne die Zehnstundenbill geht die ganze englische Arbeitergeneration physisch zugrunde. Aber zwischen der Zehnstundenbill, die die Arbeiter heute verlangen, und der Zehnstundenbill, die von Sadler, Oastler und Ashley propagiert und von der reaktionären Koalition 1847 durchgesetzt worden ist, besteht ein ungeheurer Unterschied. Die Arbeiter haben durch die kurze Lebensdauer der Bill, durch ihre leichte Vernichtung – ein einfacher Gerichtsbeschluß, nicht einmal eine Parlamentsakte, reichte hin, sie zu annullieren –, durch das spätere Auftreten ihrer reaktionären ehemaligen Bundesgenossen erfahren, welchen Wert eine Allianz mit der Reaktion hat. Sie haben erfahren, was es ihnen hilft, einzelne Detailmaßregeln gegen die industriellen Bourgeois durchzusetzen. Sie haben erfahren, daß die industriellen Bourgeois zunächst noch die Klasse sind, die allein imstande ist, im gegenwärtigen Augenblick an die Spitze der Bewegung zu treten, daß es vergeblich wäre, ihnen in dieser progressiven Mission entgegenzuarbeiten. Trotz ihrer direkten und nicht im mindesten eingeschlafenen Feindschaft gegen die Industriellen sind die Arbeiter daher jetzt viel geneigter, sie in ihrer Agitation für vollständige Durchführung des Freihandels, Finanzreform und Ausdehnung des Wahlrechts zu unterstützen, als sich abermals durch philanthropische Vorspiegelungen unter die Fahne der vereinigten Reaktionäre locken zu lassen. Sie fühlen, daß ihre Zeit erst kommen kann, wenn die Industriellen sich abgenutzt haben, und deshalb haben sie den richtigen Instinkt, den Entwicklungsprozeß, der diesen die Herrschaft geben und damit ihren Sturz vorbereiten muß, zu beschleunigen. Aber darum vergessen sie nicht, daß sie in den Industriellen ihre eigensten, direktesten Feinde zur Herrschaft bringen und daß sie nur durch den Sturz der Industriellen, durch die Eroberung der politischen Macht für sich selbst zu ihrer eignen Befreiung gelangen können. Die Annullierung der Zehnstundenbill hat ihnen auch dies abermals aufs schlagendste bewiesen. Die Wiederherstellung dieser Bill hat jetzt nur noch Sinn unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts, und das allgemeine Stimmrecht in dem zu zwei Dritteln von industriellen Proletariern bewohnten England ist die ausschließliche politische Herrschaft der Arbeiterklasse mit allen den revolutionären Veränderungen der gesellschaftlichen Zustände, die davon unzertrennlich sind. Die Zehnstundenbill, die die Arbeiter heute verlangen, ist daher eine ganz andre als die soeben vom Court of Exchequer umgestoßene. Sie ist nicht mehr ein vereinzelter Versuch, die industrielle Entwicklung zu lähmen, sie ist ein Glied in einer langen Verkettung von Maßregeln, die die ganze gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft umwälzen und die bisherigen Klassengegensätze nach und nach vernichten; sie ist keine reaktionäre, sondern eine revolutionäre Maßregel.
Die faktische Aufhebung der Zehnstundenbill, zunächst durch die Fabrikanten auf eigne Faust, dann durch den Court of Exchequer, hat vor allem dazu beigetragen, die Zeit der Prosperität zu verkürzen und die Krisis zu beschleunigen. Was aber die Krisen beschleunigt, das beschleunigt zugleich den Gang der englischen Entwicklung und ihr nächstes Ziel, den Sturz der industriellen Bourgeoisie durch das industrielle Proletariat. Die Mittel, die den Industriellen zur Ausdehnung der Märkte und zur Beseitigung der Krisen zu Gebote stehn, sind sehr beschränkt. Die Cobdensche Reduktion der Staatsausgaben ist entweder eine bloße Whigsprache oder sie kommt, wenn sie auch nur momentan helfen soll, einer vollständigen Revolution gleich. Und wird sie in der ausgedehntesten, revolutionärsten Weise – soweit die englischen Industriellen revolutionär sein können – durchgeführt, wie soll der nächsten Krise begegnet werden? Es ist evident, die englischen Industriellen, deren Produktionsmittel eine ungleich höhere Expansivkraft besitzen als ihre Debouchés, gehen mit raschen Schritten dem Punkt entgegen, wo ihre Hülfsmittel erschöpft sind, wo die Periode der Prosperität, die jetzt noch jede Krise von der folgenden trennt, unter dem Gewicht der nachdrückenden, übermäßig angewachsenen Produktivkräfte gänzlich verschwindet, wo die Krisen nur noch durch kurze Perioden einer matten, halbschlummernden industriellen Lebenstätigkeit getrennt sind und wo die Industrie, der Handel, die ganze moderne Gesellschaft an Überfülle unverwendbarer Lebenskraft auf der einen Seite und an gänzlicher Abzehrung auf der andern zugrunde gehn müßte, trüge nicht dieser abnorme Zustand sein eignes Heilmittel in sich und hätte nicht die industrielle Entwicklung zugleich die Klasse erzeugt, die dann allein die Leitung der Gesellschaft übernehmen kann: das Proletariat. Die proletarische Revolution ist dann unvermeidlich, und ihr Sieg ist gewiß.
Das ist der regelmäßige normale Lauf der Ereignisse, wie er mit unabwendbarer Notwendigkeit aus den ganzen gegenwärtigen Gesellschaftszuständen Englands hervorgeht. Inwieweit dieser normale Verlauf durch kontinentale Kollisionen und revolutionäre Überstürzungen in England abgekürzt werden kann, wird sich bald zeigen.
Und die Zehnstundenbill?
Von dem Augenblick an, wo die Grenzen des Weltmarkts selbst für die volle Entfaltung aller Ressourcen der modernen Industrie zu eng werden, wo sie eine gesellschaftliche Revolution nötig hat, um für ihre Kräfte wieder freien Spielraum zu gewinnen – von diesem Augenblick an ist die Beschränkung der Arbeitszeit nicht mehr reaktionär, ist sie kein Hemmnis der Industrie mehr. Sie stellt sich im Gegenteil ganz von selbst ein. Die erste Folge der proletarischen Revolution in England wird die Zentralisation der großen Industrie in den Händen des Staats, d. h. des herrschenden Proletariats sein, und mit der Zentralisation der Industrie fallen alle jene Konkurrenzverhältnisse weg, die heutzutage die Regulierung der Arbeitszeit mit dem Fortschritt der Industrie in Konflikt bringen. Und so liegt die einzige Losung der Zehnstundenfrage wie aller Fragen, die auf dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit beruhen, in der proletarischen Revolution.
in: »Neue Rheinische Zeitung«, Viertes Heft, April 1850 |
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