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Trotzki ~ Kunst und Revolution |
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geschrieben Mitte des Jahres 1939 |
Sie haben mir liebenswürdigerweise vorgeschlagen, meine Meinung über die aktuelle Situation der Kunst zu äußern. Ich tue das nicht ohne Zögern. Seit meinem Buch Literatur und Revolution (1923) habe ich mich nicht mehr mit den Problemen künstlerischen Schaffens befaßt und habe auch nur gelegentlich die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet verfolgen können. Ich habe daher keineswegs im Sinn, eine erschöpfende Antwort zu geben. Dieser Brief setzt sich das Ziel, die Frage richtig zu stellen.
Ganz allgemein gesagt, drückt der Mensch in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus, d. h. den kostbarsten Gütern, deren ihn die Klassengesellschaft beraubt. Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit, sei er nun bewußt oder unbewußt, aktiv oder passiv, optimistisch oder pessimistisch. jede neue künstlerische Richtung hat mit einer Rebellion eingesetzt. Die bürgerliche Gesellschaft zeigte gerade darin während langer Perioden der Geschichte ihre Stärke, daß sie es durch die Verbindung von Unterdrückung und Ermunterung, von Boykott und Schmeichelei verstand, jede »rebellierende« künstlerische Bewegung zu kontrollieren, zu assimilieren und auf das Niveau der offiziellen »Anerkennung« zu heben. Aber jede »Anerkennung« dieser Art bedeutete letztlich das Herannahen ihrer Agonie. In diesem Augenblick erhob sich dann vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten, d. h. aus den Reihen einer neuen Generation der schöpferischen Bohème, eine neue rebellierende Bewegung, die dann ihrerseits nach einer beistimmten Zeit die Stufen der Akademie emporstieg.
Diesen Weg gingen Klassizismus, Romantik, Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Expressionismus, Dekadenz. Gleichwohl blieb die Koalition von Kunst und Bourgeoisie nur so lange wenn nicht glücklich, so doch beständig, wie die bürgerliche Gesellschaft im Aufsteigen begriffen war und das politische und moralische Regime der »Demokratie« aufrechtzuerhalten vermochte. Das gelang ihr, indem sie nicht nur den Künstlern die Zügel locker ließ und sie auf jegliche Weise verwöhnte, sondern auch, indem sie den Spitzen der Arbeiterklasse besondere Privilegien gewährte und die Bürokratie der Gewerkschaften und Arbeiterparteien beschwichtigte und zügelte. Historisch gesehen, liegen alle diese Erscheinungen auf derselben Ebene.
Der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet eine unerträgliche Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche. Sie verwandeln sich zwangsläufig in individuelle Widersprüche und machen dadurch die Forderung nach einer befreienden Kunst noch brennender. Der dahinsiechende Kapitalismus ist jedoch absolut unfähig, den künstlerischen Richtungen, die unserer Epoche irgendwie entsprechen, die minimalsten Voraussetzungen für ihre Entfaltung zu garantieren. Er ist in abergläubischer Furcht vor jedem neuen Wort befangen, denn es stellt sich für ihn nicht die Frage nach einzelnen Korrekturen und Reformen, sondern die Frage nach Leben oder Tod. Die unterdrückten Massen leben ihr eigenes Leben, und die Bohème ist eine zu schmale Basis: deswegen zeigen die neuen künstlerischen Richtungen immer krampfhaftere Züge, zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankend. Die künstlerischen Schulen der letzten Jahrzehnte, Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus, lösen einander ab, ohne sich voll zu entfalten. Die Kunst, die den komplexesten, empfindlichsten und verwundbarsten Teil der Kultur darstellt, leidet ganz besonders unter dem Niedergang und Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.
Aus dieser Sackgasse mit den Mitteln der Kunst einen Ausweg zu finden, ist nicht möglich. Die ganze Kultur befindet sich in einer Krise, von der ökonomischen Basis bis zu den höchsten ideologischen Schichten. Die Kunst kann weder der Krise entkommen noch sich von ihr lossagen. Sie kann nicht nur sich selbst retten. Sie wird zwangsläufig verfallen – wie die griechische Kunst unter den Ruinen der Sklavenhalterkultur verfiel –, falls die gegenwärtige Gesellschaft sich nicht zu verändern vermag. Dieses Problem hat einen unbedingt revolutionären Charakter. Aus diesem Grund wird die Funktion der Kunst in unserer Epoche durch ihr Verhältnis zur Revolution bestimmt.
Aber gerade auf diesem Wege hat die Geschichte den Künstlern eine kolossale Falle gestellt. Eine ganze Generation der »linken« Intelligenz hat während der letzten zehn oder fünfzehn Jahre ihre Augen nach Osten gewandt und ihr Schicksal mehr oder weniger eng, wenn nicht mit dem revolutionären Proletariat, so wenigstens mit der siegreichen Revolution verknüpft. Das ist nicht dasselbe. In der siegreichen Revolution gibt es nicht nur die Revolution, sondern auch jene neue privilegierte Schicht, die sich auf ihren Schultern erhoben hat. In Wirklichkeit hat die »linke« Intelligenz versucht, ihren Herrn zu wechseln. Hat sie dabei viel gewonnen?
Die Oktoberrevolution hat der sowjetischen Kunst in allen Bereichen einen wunderbaren Aufschwung geschenkt. Die bürokratische Reaktion hat dagegen das künstlerische Schaffen mit ihrer totalitären Hand erstickt. Das ist nicht erstaunlich. Die Kunst ist im Grunde eine Nervenfunktion und verlangt vollständige Aufrichtigkeit. Selbst die höfische Kunst der absoluten Monarchie beruhte auf Idealisierung und nicht auf Verfälschung. Die offizielle Kunst der Sowjetunion – und es gibt dort keine andere – ähnelt der totalitären Justiz, d. h. sie beruht auf Lug und Trug. Ziel der Justiz wie der Kunst ist die Verehrung des »Führers«, die künstliche Erschaffung eines heroischen Mythus. Die Geschichte der Menschheit hat noch nichts gesehen, was dem an Reichweite und Schamlosigkeit gleichkäme. Einige Beispiele werden nicht überflüssig sein.
Der bekannte russische Schriftsteller Vsevolod Iwanow hat 1938 sein Schweigen gebrochen, um begeistert seine Solidarität mit der Justiz Wysinskis zu verkünden. Nach Iwanows Worten erzeugt die totale Ausrottung der alten Bolschewisten, »dieser verfaulten Auswüchse des Kapitalismus, in den Künstlern einen schöpferischen Haß«. Ein vorsichtiger Romantiker, ein von Natur aus besonnener Lyriker, stellt Iwanow in mancher Hinsicht eine Kleinausgabe von Gorki dar. Da er von Natur aus kein Höfling ist, hat er sich lieber, solange es ihm möglich war, in Schweigen gehüllt, aber der Augenblick kam, wo das Schweigen seinen zivilen und vielleicht auch physischen Tod bedeutet hätte. Nicht ein schöpferischer Haß, sondern eine lähmende Angst führte die Hand dieser Schriftsteller.
Alexei Tolstoi, in dem der Höfling den Künstler vollständig verdrängt hat, hat eigens zu dem Zweck einen Roman geschrieben, um die Heldentaten Stalins und Vorosilovs in Zarizyn zu preisen.
In Wirklichkeit bezeugen die Dokumente objektiv, daß die Zarizyn-Armee – eine von den zwei Dutzend Revolutionsarmeen – eine ziemlich klägliche Rolle gespielt hat. Die beiden »Helden« wurden von ihren Posten abberufen. Wenn der aufrechte Zapaew, einer der wirklichen Helden des Bürgerkriegs, in einem sowjetischen Film verewigt worden ist, so nur, weil er die »Epoche Stalins« nicht mehr erlebt hat: er wäre als faschistischer Agent erschossen worden. Derselbe Alexei Tolstoi schreibt jetzt ein Stück über das Jahr 1919: Der Feldzug der vierzehn Mächte. Die wichtigsten Helden dieses Stücks sind nach den Worten des Autors Lenin, Stalin und Worosilow. »Ihre [d. h. Stalins und Worosilows] Bilder, umrankt von Ruhm und Heldenmut, werden das ganze Stück durchziehen.« So ist aus einem begabten Schriftsteller, der den Namen des größten und aufrichtigsten russischen Realisten trägt, ein Verfasser von Mythen auf Befehl geworden.
Am 27. April 1938 druckte das offizielle Regierungsblatt Iswestia ein Foto von einem neuen Gemälde ab, das Stalin als den Organisator des Tiflis-Streiks vom März 1902 darstellt. Jedoch ist anhand von Dokumenten, die der Öffentlichkeit seit langem bekannt sind, nachweisbar, daß Stalin damals im Gefängnis saß, und zwar nicht in Tiflis, sondern in Batum. Diesmal war die Lüge zu auffällig. Tags darauf mußte sich die Iswestia wegen des bedauerlichen Versehens entschuldigen. Niemand weiß, was aus diesem unglücklichen Gemälde geworden ist, das aus den Mitteln des Staates bezahlt wurde.
Dutzende, Hunderte, Tausende von Büchern, Filmen, Gemälden, Plastiken verewigen und preisen solche »historischen« Episoden. So zeigen zahlreiche Bilder über die Oktoberrevolution ein revolutionäres »Zentrum« unter der Leitung Stalins, das niemals existierte. Wir müssen kurz berichten, wie es allmählich zu diesen Fälschungen gekommen ist. Leonid Serebriakow, der später nach dem Pjatakow-Radek-Prozeß erschossen wurde, machte mich 1924 auf die kommentarlose Veröffentlichung der Prawda von Auszügen aus Protokollen des Zentralkomitees von Ende 1917 aufmerksam. Als ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees hatte Serebrjakov zahlreiche Bekannte hinter den Kulissen des Parteiapparats und wußte daher über das Ziel dieser unerwarteten Veröffentlichung Bescheid: dies war der erste noch vorsichtige Schritt auf dem Weg zur Erschaffung eines zentralen Stalinmythos, der heute in der sowjetischen Kunst einen so großen Platz einnimmt.
In historischer Distanz erscheint die Oktobererhebung viel methodischer und monolithischer, als sie es in Wirklichkeit war. In Wirklichkeit fehlten weder Unentschlossenheit und Suche nach Seitenwegen noch spontane Initiativen, die zu nichts führten. So wurde auf der in der Nacht des 16. Oktober improvisierten Sitzung des Zentralkomitees in Abwesenheit der bedeutendsten Mitglieder des Petersburger Sowjets beschlossen, den Stab des Aufstandes durch ein »Hilfszentrum« der Partei, bestehend aus Swerdlow, Stalin, Bubnow, Urizki und Dserschinski, zu ergänzen.
Zum selben Zeitpunkt beschloß der Petersburger Sowjet die Einrichtung eines militärischen Revolutionskomitees, das vom ersten Augenblick an in der Planung des Aufstandes eine so entscheidende Arbeit leistete, daß alle – auch seine Gründer selbst – das am Vortage geschaffene »Zentrum« vergaßen. Mehr als eine Improvisation dieser Art verschwand im Wirbel dieser Epoche. Stalin wurde niemals Mitglied des militärischen Revolutionskomitees, er erschien nicht im Smolni, d. h. dem Stab der Revolution, er hatte an der praktischen Vorbereitung des Aufstandes keinen Anteil: er saß in der Redaktion der Prawda und schrieb dort massenweise Artikel, die wenig Leser fanden. In den folgenden Jahren erwähnte niemand das »Praktische Zentrum«. In den Erinnerungsberichten derer, die am Aufstand teilgenommen haben – und an solchen Berichten besteht kein Mangel –, wird der Name Stalins nicht einmal erwähnt. In seinem Artikel zum Jahrestag der Oktoberrevolution in der Prawda vom 7. November 1918, in dem er alle mit der Revolution verbundenen Institutionen und Persönlichkeiten aufzählt, weist Stalin selbst mit keinem Wort auf das »Praktische Zentrum« hin. Nichtsdestoweniger diente das alte Dokument, das 1924 zufällig entdeckt und falsch interpretiert wurde, der bürokratischen Legende als Grundlage. In allen Handbüchern, biographischen Verzeichnissen, selbst in jüngst herausgekommenen Schulbüchern wird das revolutionäre »Zentrum« mit Stalin an seiner Spitze erwähnt. Dabei hat niemand, und sei es auch nur aus gewissem Anstandsgefühl, zu erklären versucht, wo und wann dieses Zentrum getagt hat, welche Befehle und wem es sie gegeben hat, ob Protokolle aufgenommen worden sind und wo sich diese befinden. Wir haben hier alle Elemente der Moskauer Prozesse.
Mit der für sie charakteristischen Servilität hat die sogenannte sowjetische Kunst diesen bürokratischen Mythus zu einem ihrer Lieblingsthemen für das künstlerische Schaffen gemacht. Swerdlow, Dserschinski, Urizki und Bubnow werden in Farbe oder Ton, um Stalin sitzend oder stehend und seinen Worten mit verzückter Aufmerksamkeit lauschend, dargestellt. Das Gebäude, in dem das »Zentrum« tagt, hat absichtlich verschwommene Konturen, um der heiklen Frage nach der Adresse aus dem Wege zu gehen. Was kann man von Künstlern erwarten oder verlangen, die gezwungen sind, die groben Spuren einer für sie selbst evidenten historischen Fälschung mit ihrem Pinsel zu verwischen?
Der Stil der offiziellen sowjetischen Malerei von heute heißt »sozialistischer Realismus«. Dieser Name ist ihr offenbar von irgendeinem Leiter irgendeiner Kunstsektion gegeben worden. Dieser Realismus besteht darin, die provinziellen Daguerreotypen des dritten Viertels des letzten Jahrhunderts nachzuäffen; der »sozialistische« Charakter besteht offensichtlich darin, mit den Mitteln einer verfälschenden Photographie Ereignisse darzustellen, die niemals stattfanden. Es ist nicht möglich, ohne ein Gefühl physischen Ekels und Entsetzens sowjetische Verse oder Romane zu lesen oder Reproduktionen sowjetischer Gemälde und Plastiken zu betrachten: in diesen Werken verewigen mit Feder, Pinsel oder Meißel bewaffnete Funktionäre unter der Aufsicht von Funktionären, die mit Mauserpistolen bewaffnet sind, »große« und »geniale« Führer, die in Wirklichkeit nicht einen Funken von Größe oder Genialität besitzen. Die Kunst der Stalinepoche wird als schärfster Ausdruck des tiefsten Niedergangs der proletarischen Revolution in die Geschichte eingehen.
Dieser Tatbestand macht an den Grenzen der UdSSR nicht halt. Unter dem Vorwand einer verspäteten Anerkennung der Oktoberrevolution hat der »linke« Flügel der westlichen Intelligenz vor der sowjetischen Bürokratie einen Kniefall gemacht. Im allgemeinen haben sich die charakterstarken und begabten Künstler abseits gehalten. Aber die Versager, Streber und Nullen haben sich um so bissiger in den Vordergrund gedrängt. Da entrollte sich ein breites Band von Zentren und Sektionen, Sekretären beiderlei Geschlechts, unvermeidlichen Briefen von Roman Rolland, subventionierten Editionen, Banketten und Kongressen, auf denen es schwierig war, die Trennungslinie zwischen Kunst und GPU zu bestimmen. Trotz ihrer mächtigen Aktivität erzeugte diese militante Bewegung auch nicht ein Werk, das fähig wäre, seinen Autor oder seine Inspirationen aus dem Kreml zu überleben.
Wird die totalitäre Diktatur das, wovon die Zukunft der Menschheit abhängt, noch lange ersticken, zertreten und beschmutzen? Untrügliche Symptome belehren uns, daß das nicht der Fall sein wird. Der schändliche und jämmerliche Zusammenbruch der feigen, reaktionären Politik der Volksfronten in Spanien und Frankreich einerseits, die Verlogenheit der Moskauer Prozesse andererseits kündigen das Herannahen einer großen Wende sowohl im Bereich der Politik als auch in dem weiteren Bereich der revolutionären Ideologie an. Selbst die unglücklichen »Freunde« – natürlich nicht das intellektuelle und moralische Gesindel der New Republic und der Nation – werden allmählich des Jochs und der Knute müde. Kunst, Kultur und Politik brauchen eine neue Perspektive. Ohne sie gibt es für die Menschheit keinen Fortschritt. Noch nie waren die Aussichten so bedrohlich und katastrophal wie heute. Aus diesem Grund ist heute die Panik die beherrschende Geisteshaltung der desorientierten Intelligenz. Diejenigen, die dem Moskauer Joch nur eine unverbindliche Skepsis entgegensetzten, wiegen in der Waage der Geschichte nicht schwer. Skepsis ist lediglich eine andere – und keineswegs bessere – Form der Niedergeschlagenheit. Was sich hinter der heute so beliebten gleichmäßigen Distanzierung von der stalinistischen Bürokratie und ihren revolutionären Gegnern verbirgt, ist in neun von zehn Fällen eine jämmerliche Kapitulation vor den Schwierigkeiten und Gefahren der Geschichte. Verbale Ausflüchte und Hinterlist helfen jedoch niemandem. Niemand erhält Aufschub oder Bewährung. Angesichts der herannahenden Periode der Kriege und der Revolutionen gibt es für alle nur eine Antwort: für Philosophen, Dichter, Künstler und für einfache Sterbliche.
In einer Nummer der Partisan Review stieß ich auf einen seltsamen Brief eines mir unbekannten Redakteurs einer Chicagoer Zeitschrift. Er weist – ich hoffe, aus Versehen – auf sein Einverständnis mit Ihrer Zeitschrift hin und schreibt: »Dennoch(?) erhoffe ich nichts von den Trotzkisten und anderen blutarmen Splittergruppen, die keine Basis in der Masse haben.« Diese arroganten Worte sagen über den Verfasser mehr, als er vielleicht beabsichtigte. Sie zeigen vor allem, daß die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung für ihn ein Buch mit sieben Siegeln sind. Nicht eine einzige fortschrittliche Idee begann mit einer Basis in der Masse, sonst wäre sie eben nicht fortschrittlich gewesen. Erst in ihrer letzten Phase findet eine Idee ihre Massen, vorausgesetzt natürlich, daß sie den Notwendigkeiten der Entwicklung entspricht. Alle großen Bewegungen haben als Splittergruppen älterer Bewegungen begonnen. Das Christentum war anfänglich eine Splittergruppe des Judentums; der Protestantismus eine solche des Katholizismus, d. h. des degenerierten Christentums. Die Marx-Engels-Gruppe entstand als Splittergruppe der linken Hegelianer. Die kommunistische Internationale entstand als Splittergruppe der sozialdemokratischen Internationale. Wenn diese Begründer fähig waren, sich eine Massenbasis zu verschaffen, so nur, weil sie die Isolierung nicht fürchteten. Sie wußten im voraus, daß die Qualität ihrer Ideen sich in eine Quantität umwandeln würde. Diese Splittergruppen litten nicht an Blutarmut, im Gegenteil, sie trugen in sich den Keim der großen historischen Bewegungen von morgen.
In derselben Weise entsteht, wie schon gesagt, in der Kunst eine fortschrittliche Bewegung. Sobald die herrschende Kunstrichtung ihre Energiequelle erschöpft hat, lösen sich von ihr schöpferische Splittergruppen, die die Fähigkeit besitzen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Je kühner die Neuerer in ihren Einfällen und Verfahren sind, desto schärfer stellen sie sich der etablierten Autorität, die sich auf eine konservative Massenbasis stützt, entgegen, und desto eher neigen Gewohnheitsmenschen, Skeptiker und Snobs dazu, in ihnen kraftlose Sonderlinge oder blutarme Splittergruppen zu sehen. Aber letztlich werden die Gewohnheitsmenschen, Skeptiker und Snobs entlarvt – und das Leben schreitet über sie hinweg.
Die Thermidorbürokratie, der man ein fast instinktives Wittern der Gefahr und einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb nicht aberkennen kann, ist keinesfalls geneigt, ihre revolutionären Gegner mit jener großartigen Geringschätzung, die oft mit Leichtsinn und Unbeständigkeit Hand in Hand geht, zu strafen.
In den Moskauer Prozessen setzte Stalin, der von Natur aus kein leichtsinniger Spieler ist, im Kampf gegen den »Trotzkismus« das Schicksal der Kremloligarchie und sein persönliches Schicksal aufs Spiel. Wie kann man das erklären? Die wütende internationale Kampagne gegen den »Trotzkismus«, zu der man in der Geschichte nur schwer eine Parallele finden wird, wäre absolut unverständlich, wenn die Splittergruppen nicht über eine große Vitalität verfügten. Wer das heute noch nicht sieht, dem werden morgen die Augen geöffnet.
Als wolle er sein Selbstporträt mit einem markanten Strich beenden, gibt der Chicagoer Korrespondent der Partisan Review – welch ein Mut! – das Versprechen, Sie in ein zukünftiges faschistisches oder »kommunistisches« Konzentrationslager zu begleiten. Kein schlechtes Programm! Bei dem Gedanken an ein Konzentrationslager zu zittern, ist gewiß schlimm. Aber ist es viel besser, für sich und seine Ideen schon im voraus diese unwirtliche Zufluchtsstätte zu bestimmen? Mit dem für uns Bolschewiken charakteristischen »Amoralismus« gestehen wir gern ein, daß die keineswegs blutarmen Gentlemen, die vor dem Kampf und ohne Kampf kapitulieren, wirklich nichts anderes als das Konzentrationslager verdienen.
Es wäre etwas anderes, wenn der Korrespondent der Partisan Review lediglich gesagt hätte: auf dem Gebiet der Literatur und der Kunst lassen wir eine Bevormundung durch »Trotzkisten« ebensowenig zu wie eine Bevormundung durch Stalinisten. Diese Forderung besteht in ihrem Wesen unbedingt zu Recht. Man kann bloß antworten, daß, wenn diese Forderung denen vorgehalten wird, die man »Trotzkisten« nennt, nur offene Türen eingerannt werden. Der ideologische Kampf zwischen der Dritten und der Vierten Internationale beruht nicht allein auf einem scharfen Gegensatz in dem Ziel der Parteien, sondern in der allgemeinen Auffassung vom materiellen und geistigen Leben der Menschheit. Die gegenwärtige Kulturkrise ist vor allem eine Krise der revolutionären Führung. In dieser Krise bedeutet der Stalinismus die stärkste reaktionäre Kraft. Ohne ein neues Banner und ohne ein neues Programm ist es nicht möglich, eine revolutionäre Massenbasis zu errichten, folglich auch nicht, die Gesellschaft aus ihrer Sackgasse zu befreien. Eine wirklich revolutionäre Partei ist weder in der Lage noch willens, die Aufgabe einer Lenkung, noch weniger, die einer Gängelung der Kunst zu übernehmen, weder vor noch nach ihrem Machtantritt. Eine solche Anmaßung existiert nur in dem Kopf einer unwissenden, schamlosen, machttrunkenen Bürokratie, die zur Antithese der proletarischen Revolution geworden ist. Die Kunst und die Wissenschaft suchen nicht nur keine Lenkung, sondern können von ihrem Wesen her keine dulden. Das künstlerische Schaffen gehorcht seinen eigenen Gesetzen selbst dann, wenn es sich bewußt in den Dienst einer sozialen Bewegung stellt. Echtes geistiges Schaffen ist unvereinbar mit Lüge, Heuchelei und Konformismus. Die Kunst kann nur insoweit ein großer Bundesgenosse der Revolution sein, als sie sich selbst treu bleibt. Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker werden selbst ihren Weg und ihre Methode finden, wenn die emanzipatorische Bewegung der unterdrückten Klassen und Völker die Wolken der Skepsis und des Pessimismus verjagt, die heute den Horizont der Menschheit verdunkeln. Die erste Bedingung für ein solche Regenerierung ist die Abschüttelung der erstickenden Vormundschaft der Kremlbürokratie.
Leserbrief an den »Partisan Review« (New York), Juli 1939 |
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