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Trotzki ~ Rätsel UdSSR


geschrieben in Coyoacán, 21. Juni 1939

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LEO TROTZKI

Rätsel UdSSR

Zwei Grundzüge charakterisieren gegenwärtig die auswärtige Politik der Großmächte. Erstens das Fehlen jeglichen Systems und jeglicher Konsequenz des Handelns. Besonders phantastische Schwankungen führte in letzter Zeit das Land vor, das historisch das Vorbild verläßlicher Stabilität war, nämlich Großbritannien. Zur Zeit des Münchner Abkommens, im September vergangenen Jahres, proklamierte Chamberlain »diese neue Welt«, die auf der Zusammenarbeit von vier europäischen Staaten gegründet ist. Die inoffizielle Losung der Konservativen war in diesen Tagen, Deutschland den Weg nach Osten zu öffnen. Heute konzentriert die britische Regierung alle Anstrengungen darauf, zu einer Übereinkunft mit Moskau zu kommen – gegen Deutschland. Die Londoner Börse, die seinerzeit das Münchner Abkommen mit einer Aufwärtstendenz begrüßte, paßt ihren Pulsschlag jetzt dem Verlauf der anglo-sowjetischen Verhandlungen an. Frankreich folgt dem englischen Zickzack unterwürfig. Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Das einzig stabile Moment in Hitlers Politik ist ihre aggressive Dynamik. Niemand weiß, in welche Richtung Deutschland den nächsten Schlag führt. Es ist möglich, daß selbst Hitler das heute noch nicht weiß. Das Hin und Her um das Gesetz über die »Neutralität« in den Vereinigten Staaten sind Illustrationen des gleichen Themas.

Der zweite Grundzug der internationalen Politik, der mit dem ersten eng zusammenhängt, ist der, daß niemand den Worten anderer, ja nicht einmal seinen eigenen Glauben schenkt. Jeder Vertrag setzt ein Minimum an gegenseitigem Vertrauen voraus, mehr noch ein Militärbündnis. Indessen haben die Umstände der anglo-sowjetischen Verhandlungen allzu offen gezeigt, daß ein solches Vertrauen nicht vorhanden ist. Dies ist keineswegs eine Frage abstrakter Moral; nur schließt gegenwärtig die objektive Lage der Weltmächte, denen es auf dem Globus nebeneinander zu eng wird, einfach die Möglichkeit einer konsequenten, vorhersehbaren und verläßlichen Politik aus. Jede Regierung versucht, sich gegen wenigstens zwei mögliche Konstellationen abzusichern. Daher rührt die fürchterliche Doppeldeutigkeit der Weltpolitik, die Heuchelei und die Verkrampfung. Je unausweichlicher und tragischer die allgemeine Prognose erkennbar wird – die Menschheit geht mit geschlossenen Augen einer neuen Katastrophe entgegen –, desto schwieriger werden Teilprognosen: Was tun England oder Deutschland morgen? Auf wessen Seite wird Polen stehen? Welche Stellung wird Moskau beziehen?

Zur Beantwortung der letzten Frage gibt es besonders wenig Daten. Die sowjetische Presse mischt sich so gut wie nicht in die internationale Politik ein. Weshalb gerade Mister Strangiv nach Moskau kam und was er dort treibt, geht den sowjetischen Bürger nichts an. Ausländische Telegramme werden gewöhnlich auf der letzten Seite gebracht und meist in »neutraler« Färbung wiedergegeben. Über den Abschluß des deutsch-italienischen Bündnisses [Stahlpakt, 22. V. 1939] oder über die Befestigung der Ålandinseln [durch Finnland] wird so berichtet, als ob sich die Sache auf dem Mars zugetragen habe. Dieser Scheinobjektivismus vermeidet es, dem Kreml die Hände zu binden. In den vergangenen Monaten schrieb die Weltpresse wiederholt über die »Undurchschaubarkeit« sowjetischer Absichten und die »Unvorhersehbarkeit« der Kreml-Methoden. Einer Lösung solcher »unauflösbarer« Rätsel kommen wir um so näher, je entschiedener wir die Erforschung der subjektiven Sympathien und Antipathien Stalins durch eine objektive Einschätzung der Interessen der sowjetischen Oligarchie ersetzen, die Stalin nur personifiziert.

Haupttriebfedern der Kreml-Politik

Niemand »will« Krieg, und viele »hassen« den Krieg obendrein. Das heißt nur, daß jeder seine Ziele mit friedlichen Mitteln erreichen möchte. Es heißt aber keineswegs, daß es keinen Krieg gibt. Die Ziele aber, ach, sind gegensätzlich und lassen eine Aussöhnung nicht zu. Weniger als sonst jemand will Stalin einen Krieg, denn mehr als sonst jemand fürchtet er den Krieg. Dafür hat er genug Gründe. Die nach Maß und Methode ungeheuerlichen »Säuberungen« spiegeln die unerträgliche Spannung zwischen der sowjetischen Bürokratie und dem Volk wider. Die Blüte der bolschewistischen Partei, die Wirtschaftsführer und die Spitzendiplomaten sind vernichtet. Die Blüte des Kommandokaders, die Helden und Idole von Armee und Flotte sind vernichtet. Von fünf Marschällen wurden drei liquidiert. Stalin initiierte diese Säuberung nicht aus der sinnentleerten Laune des orientalischen Despoten: Er war durch den Kampf um die Machterhaltung dazu gezwungen. Das muß man sich ernsthaft klarmachen. Wenn man in der sowjetischen Presse Tag für Tag das Leben in der UdSSR verfolgt und aufmerksam zwischen den Zeilen liest, wird ganz klar, daß die herrschende Schicht sich als Gegenstand des allgemeinen Hasses fühlt. Von den Volksmassen geht die Drohung aus: »Kommt der Krieg – werden wir es ihnen zeigen.« Die Bürokratie zittert um ihre frisch errungenen Positionen. Vorsicht ist der Grundzug ihres Führers, besonders in der Arena der Weltpolitik. Wagemut ist ihm vollkommen fremd. Zwar macht er nicht vor Gewaltanwendung in noch nie dagewesenem Ausmaß halt, jedoch wenn vorher Straflosigkeit gewiß ist. Dafür macht er leicht Zugeständnisse und tritt den Rückzug an, wenn er den Ausgang des Kampfes nicht übersieht. Japan hätte sich nie in einen Krieg mit China eingelassen, wenn es nicht im voraus gewußt hätte, daß Moskau sich den günstigen Vorwand zur Einmischung nicht zunutze machen würde. Auf dem Parteitag im März dieses Jahres erklärte Stalin erstmals laut, daß die Sowjetunion gegenüber den kapitalistischen Ländern ökonomisch noch weit zurück sei. - Dies mußte er nicht nur eingestehen, um das niedrige Lebensniveau der Volksmassen zu erklären, sondern auch um seine Rückzüge auf außenpolitischem Gebiet zu rechtfertigen. Stalin ist bereit, für den Frieden teuer, um nicht zu sagen jeden Preis, zu bezahlen. Nicht, weil er den Krieg »haßt«, sondern weil er seine Folgen fürchtet wie den Tod.

Unter diesem Blickwinkel ist es nicht schwierig, im Vergleich die Vorteile einzuschätzen, die für den Kreml die Alternative eines Abkommen mit Deutschland oder eines Bündnisses mit den »Demokratien« konstituieren. Die Freundschaft mit Hitler würde sofort die Kriegsgefahr von Westen beseitigen und zugleich eine starke Abschwächung der vom Fernen Osten ausgehenden Gefahr. Das Bündnis mit den Demokratien eröffnet nur die Möglichkeit, im Falle eines Krieges Hilfe zu bekommen. Wenn Krieg nicht vermeidbar ist, ist es selbstverständlich besser, Verbündete zu haben, als isoliert zu sein. Aber die Hauptaufgabe Stalinscher Politik besteht nicht darin, günstigere Bedingungen für den Kriegsfall zu schaffen, sondern darin, den Krieg zu vermeiden. Das ist der verborgene Sinn der wiederholten Äußerungen Stalins, Molotows und Woroschilows, daß die UdSSR »keine Verbündeten braucht«.

Die Wiederbelebung der Entente propagiert man heute zwar als verläßliches Mittel zur Vermeidung eines Krieges. Niemand erklärt uns jedoch, warum die Entente dieses Ziel vor 25 Jahren nicht erreicht hat. Die Schaffung des Völkerbundes wurde vor allem damit motiviert, daß andernfalls die Teilung Europas in zwei Lager unvermeidlich zu einem neuen Krieg führe. Als Ergebnis des Experiments der »kollektiven Sicherheit«, kam die Diplomatie jetzt zu dem Schluß, daß die Teilung Europas in zwei unversöhnliche Lager es ermöglicht, den Krieg abzuwenden. Das glaube, wer will! Der Kreml glaubt das jedenfalls nicht. Eine Übereinkunft mit Hitler würde die Grenzen der UdSSR sichern, allerdings Moskau aus der europäischen Politik ausschließen. Stalin könnte sich nichts besseres wünschen. Das Bündnis mit den Demokratien sichert die Grenzen der UdSSR nur insoweit, wie es alle anderen europäischen Grenzen sichert, verwandelt die UdSSR in deren Bürgen und schließt so die Möglichkeit der Neutralität aus.

Anzunehmen, die Neubildung der Entente sei geeignet, den Status quo zu verewigen, die Möglichkeit jeglicher Grenzverletzungen auszuschließen, hieße, in einer Welt der Schimären zu leben. Vielleicht wäre die Kriegsgefahr für die UdSSR zeitweilig nicht so bedrohlich; sie wäre dann aber weitaus extensiver. Ein Bündnis Moskaus mit London und Paris würde für Hitler bedeuten, daß er nun alle drei Staaten gleichzeitig gegen sich hätte, gleichgültig, welche Grenze er verletzt. Angesichts dieses Risikos wird er sicherlich den höchsten Einsatz wählen, d.h. den Feldzug gegen die UdSSR. In diesem Fall kann sich die »Versicherung« Entente leicht in ihr Gegenteil verkehren.

Auch in jeder anderen Beziehung wäre das Abkommen mit Deutschland die beste Lösung für die Moskauer Oligarchie. Die Sowjetunion könnte Deutschland systematisch fast alle Bodenschätze und Lebensmittel liefern, die ihm fehlen; Deutschland könnte die Sowjetunion mit Maschinen, Industriegütern sowie mit den nötigen technischen Rezepten versehen, sowohl für die zivile als auch für die Rüstungsindustrie. Im Schraubstock der beiden Giganten bliebe Polen, Rumänien und den baltischen Staaten nichts anderes übrig, als jeden Gedanken an eine selbständige Politik aufzugeben und sich auf die bescheidenen Vorteile von Zusammenarbeit und Transit zu beschränken. Moskau würde Berlin in der Außenpolitik gern volle Freiheit in jede Richtung gewähren, eine ausgenommen: die nach Osten. Wer unter diesen Bedingungen an die »Verteidigung der Demokratie« erinnern würde, würde vom Kreml zum Trotzkisten, Agenten Chamberlains und Söldner der Wallstreet erklärt und unverzüglich erschossen.

Vom ersten Tag des nationalsozialistischen Regimes an zeigte Stalin systematisch und nachdrücklich seine Bereitschaft zur Freundschaft mit Hitler. Mitunter geschah dies in Form offener Erklärungen; häufiger aber in Andeutungen, in tendenziösem Schweigen oder – umgekehrt – in Form von Betonungen, die die eigenen Bürger nicht bemerken konnten, ihren Adressaten hingegen unfehlbar erreichten. Über die Arbeit, die dazu hinter den Kulissen geleistet wurde, hat kürzlich W. Kriwitzki sehr ausführlich berichtet, der ehemalige Leiter der sowjetischen Spionageabwehr in Europa. Erst als Hitler mehrmals äußerst feindlich reagierte, setzte in der sowjetischen Politik ein Umschwung auf die Seite des Völkerbundes, der kollektiven Sicherheit und der Volksfront ein. Die neue diplomatische Melodie, untermalt von den Trommeln, Pauken und Saxophonen der Komintern, wurde im Laufe des letzten Jahres für das Trommelfell immer gefährlicher. Aber in Momenten der Stille waren darunter jedesmal leisere, leicht melancholische, intimere Noten zu hören, die für die Ohren Berchtesgadens bestimmt waren. In dieser scheinbaren Ambivalenz liegt fraglos ihre innere Einheitlichkeit.

Die gesamte Weltpresse wandte ihre Aufmerksamkeit der Offenheit zu, mit der Stalin in seiner Rede auf dem letzten Parteitag im März dieses Jahres mit Deutschland kokettierte und gleichzeitig Schläge an England und Frankreich austeilte, als »Kriegstreiber, die das Feuer mit fremden Händen schüren.« Völlig unbemerkt blieb dagegen der ergänzende Vortrag von Manuilski über die Kominternpolitik; indessen ist auch dieser Vortrag von Stalin redigiert. Die traditionelle Forderung nach Befreiung aller Kolonien hatte Manuilski erstmals durch eine neue Losung ersetzt: »Kampf für die Verwirklichung des Rechtes auf Selbstbestimmung der Völker, die von den faschistischen Staaten unterjocht werden… Die Kommunisten fordern die freie Selbstbestimmung Österreichs, des Sudetengebiets,… Koreas, Formosas, Abessiniens,…« Was Indien, Indochina, Algerien und andere Kolonien Großbritanniens und Frankreichs angeht, so beschränkt sich Stalins Agent auf den harmlosen Wunsch nach »Verbesserung der Lage der werktätigen Massen«. Zugleich fordert er, daß die Kolonialvölker künftig ihren Befreiungskampf »dem Ziel der Zerschmetterung des Faschismus, dieses schlimmsten Feindes der Werktätigen«, unterordnen. Mit anderen Worten, die englischen und französischen Kolonien sind nach der neuen Kominterntheorie verpflichtet, ihre Metropolen gegen Deutschland, Italien und Japan zu unterstützen. Der augenfällige Widerspruch beider Vorträge hat in Wirklichkeit nur Scheincharakter. Stalin übernahm den wichtigeren Teil der Aufgabe: den direkten Vorschlag an Hitler zur Einigung gegen die demokratischen »Kriegsprovokateure«. Manuilski beauftragte er, Hitler mit der Annäherung der UdSSR an die demokratischen »Provokateure« zu erschrecken und so die ihnen entstehenden enormen Vorteile hervorzuheben, die das Bündnis mit der UdSSR für sie hat: niemand außer dem Kreml, dem alten Freund der geknechteten Völker, wäre in der Lage, den Kolonien die Notwendigkeit zu suggerieren, ihren demokratischen Herren während eines Krieges mit dem Faschismus die Treue zu bewahren. Das sind die Haupttriebfedern der Kremlpolitik, einheitlich trotz äußerer Gegensätze. Von Anfang bis Ende ist sie durch die Interessen der herrschenden Kaste definiert, die alle Prinzipien über Bord geworfen hat, außer dem Prinzip der Selbsterhaltung.

Hitler und die UdSSR

Die Mechanik lehrt, daß sich Kraft durch Masse und Geschwindigkeit definiert. Die Dynamik der Außenpolitik Hitlers sichert Deutschland eine beherrschende Lage in Europa, teilweise auch in der übrigen Welt. Für wie lange, ist eine andere Frage. Wenn Hitler sich unterwerfen würde (vorausgesetzt, er könnte sich unterwerfen), würde London Moskau erneut den Rücken kehren. Andererseits hängt die stündlich erwartete Antwort Moskaus auf die Londoner Vorschläge weitaus mehr von Hitler als von Stalin ab. Wenn Hitler schließlich auf die diplomatischen Avancen Moskaus eingeht, erhält Chamberlain eine Absage. Wenn Hitler schwankt oder tut, als ob er schwanke, wird der Kreml mit allen Kräften die Verhandlungen hinauszögern. Stalin wird einen Vertrag mit England nur abschließen, wenn er überzeugt ist, daß ein Abkommen mit Hitler für ihn außer Reichweite ist.

Dimitroff, der Sekretär der Komintern, gab bald nach dem Münchner Abkommen im Auftrag Stalins einen genauen Kalender zukünftiger Eroberungszüge Hitlers bekannt: Ungarn wird im Frühjahr 1939 unterworfen; im Herbst desselben Jahres wird Polen Ziel der Eroberungspolitik. Jugoslawien ist im folgenden Jahr an der Reihe. Im Herbst 1940 wird Hitler in Rumänien und Bulgarien einfallen. Im Frühjahr 1941 werden die Schläge gegen Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark und die Schweiz gerichtet sein. Für den Herbst 1941 schließlich will Deutschland den Angriff auf die Sowjetunion eröffnen. Möglich, daß dies – natürlich weniger vollständig – Erkenntnisse der sowjetischen Aufklärung sind. Vielleicht sind sie aber auch Produkt reiner Spekulation, die beweisen soll, daß Deutschland zuerst seine westlichen Nachbarn niederwirft und erst dann die Waffen gegen die Sowjetunion richtet. Wieweit wird sich Hitler nach Dimitroffs Kalender richten? Um diese Frage drehen sich jetzt Vermutungen und Pläne in den verschiedenen Hauptstädten Europas.

Das erste Kapitel des Hitlerschen Weltplans, die Schaffung einer breiten nationalen Basis, dazu das tschechoslowakische Sprungbrett, ist abgeschlossen. Die nächste Etappe der deutschen Aggression hat zwei mögliche Varianten. Entweder ein sofortiges Abkommen mit der UdSSR, um die Hände im Südwesten und Westen freizubekommen; in diesem Fall würden die Vorstellungen bezüglich der Ukraine, des Kaukasus und des Urals in den Operationen Hitlers das dritte Kapitel ausmachen. Oder der sofortige Schlag nach Osten, die Zerstückelung der Sowjetunion, die Absicherung im Osten. In diesem Fall wäre der Schlag gegen den Westen das dritte Kapitel.

Ein dauerhaftes Abkommen mit Moskau, ganz im Geiste Bismarckscher Tradition, würde für Deutschland nicht nur enorme wirtschaftliche Vorteile bringen, sondern ihm auch erlauben, aktive Weltpolitik zu betreiben. Jedoch hat Hitler seit dem Tag seines Machtantritts beharrlich die ausgestreckte Hand Moskaus zurückgewiesen. Da Hitler die deutschen »Marxisten« vernichtete, durfte er seine innenpolitische Position in den ersten Jahren nicht durch Annäherung an das »marxistische« Moskau schwächen. Wichtiger waren jedoch außenpolitische Überlegungen: Um England zu veranlassen, die Augen vor der illegalen Wiederbewaffnung Deutschlands und der Verletzung des Versailler Vertrages zu schließen, mußte Hitler als Beschützer der europäischen Kultur vor der bolschewistischen Barbarei auftreten. Diese beiden Gründe haben jetzt an Wichtigkeit verloren. In Deutschland sind die sozialdemokratische und die kommunistische Partei, die sich durch die schmähliche Kapitulation vor den Nazis selbst entehrt haben, heute eine bedeutungslose Größe. In Moskau sind vom Marxismus nur schlechte Marxbüsten übriggeblieben. Die Entstehung einer neuen privilegierten Schicht in der UdSSR und die Absage an eine internationale Revolutionspolitik, die durch massenhaftes Ausmerzen von Revolutionären bekräftigt wurde, verminderte in starkem Maße die Furcht, in die Moskau die kapitalistische Welt versetzte. Der Vulkan ist erloschen, die Lava erkaltet. Es versteht sich, daß die kapitalistischen Staaten auch jetzt gern bei der Wiedererrichtung des Kapitalismus in der UdSSR helfen würden. Aber sie betrachten dieses Land nicht mehr als Brutstätte der Revolution. Das Bedürfnis nach einem Feldherrn für den Kreuzzug gen Osten besteht nicht mehr. Hitler selbst hat früher als andere die gesellschaftliche Bedeutung der Moskauer Säuberungen und der Justizspektakel verstanden, weil er in jedem einzelnen Fall sicher wußte, daß weder Sinowjew noch Kamenjew, Rykow, Bucharin, Marschall Tuchatschewski, noch Hunderte anderer Revolutionäre, Staatsbeamte, Diplomaten und Generäle seine Agenten waren. Ebenso entfiel für Hitler die Notwendigkeit, die Downing Street durch Interessengemeinschaft gegen die UdSSR zu hypnotisieren, weil er von seiten Englands mehr bekam, als er gehofft hatte – alles, was man bekommen konnte, ohne zu den Waffen zu greifen. Wenn er nichtsdestoweniger dem Kreml entgegenkommt, dann offensichtlich deshalb, weil er die UdSSR fürchtet. Mit ihrer Bevölkerung von 170 Millionen, der Unerschöpflichkeit der natürlichen Reichtümer, den unbestrittenen Industrialisierungserfolgen, dem Ausbau der Verkehrswege, wird die UdSSR – so kombiniert Hitler – Polen, Rumänien und die Baltenstaaten schnell an sich reißen und mit all ihrer Masse gerade in dem Moment an die Grenzen Deutschlands vorrücken, wenn das Dritte Reich in den Kampf um die Neuverteilung der Welt einbezogen sein wird. Um England und Frankreich ihrer Kolonien zu berauben, muß man sich zunächst den eigenen Rücken freihalten, und so spielt Hitler mit dem Gedanken an einen Präventivkrieg gegen die UdSSR.

Gewiß kennt der deutsche Stab aufgrund früherer Erfahrung die Schwierigkeiten einer Besetzung Rußlands oder auch nur der Ukraine recht gut. Hitler rechnet allerdings mit der Labilität des Stalinschen Regimes. Einige ernste Niederlagen der Roten Armee, so spekuliert er, werden für den Sturz der Kremlregierung ausreichen. Und weil es keinerlei organisierte Kräfte im Lande gibt, die Weiße Emigration dem Volk völlig fremd ist, wird nach dem Niedergang Stalins lange Zeit ein Chaos herrschen, das man einerseits für die unmittelbare wirtschaftliche Plünderung, Aneignung der Goldreserven, Ausfuhr jeder Art von Bodenschätzen usw., andererseits für einen Schlag gegen den Westen ausnutzen kann. Die lebhaften Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der UdSSR – jetzt ist erneut die Rede von einer Reise von Industrievertretern aus Berlin nach Moskau – zeugen für sich genommen noch nicht davon, daß eine lange Periode des Friedens vor uns liegt. Bestenfalls bedeuten sie, daß der Zeitpunkt für den Krieg noch nicht feststeht. Kredite in Höhe von einigen Hundert Millionen Mark können den Krieg nicht eine Stunde aufhalten, denn im Krieg geht es nicht um Hunderte von Millionen, sondern um zig Milliarden, um die Eroberung von Ländern und Kontinenten, um die Neuverteilung der Welt. Verlorene Kredite werden nötigenfalls den kleinen Ausgaben des großen Unternehmens zugerechnet. Zugleich ist die Bewilligung neuer Kredite kurz vor Beginn militärischer Operationen eine passable Methode zur Desorientierung des Gegners. In jedem Fall entscheidet Hitler gerade jetzt, im kritischen Augenblick der anglo-sowjetischen Verhandlungen, in welche Richtung er seine Aggression lenken soll: in den Osten oder den Westen?

Die Zukunft der Militärbündnisse

Vielleicht stellt sich heraus, daß die Unterscheidung zwischen »zweitem« und »drittem« Kapitel der bevorstehenden deutschen Expansion eine pedantische Konstruktion ist: Die Wiederherstellung der Entente würde Hitler der Möglichkeit berauben, seine Aufgaben der Reihe nach zu lösen und seine Schläge zu staffeln, weil der Konflikt, gleichgültig, wo er beginnt, sich unverzüglich auf alle Grenzen Deutschlands ausdehnt. Allerdings ist diese Überlegung nur bedingt zuverlässig. Deutschland hat gegenüber seinen zukünftigen Feinden eine zentrale Stellung inne; es kann manövrieren und seine Reserven auf inneren Operationslinien jeweils in die wichtigste Richtung werfen. Solange die Initiative der militärischen Operationen bei Deutschland liegt – und zu Beginn des Krieges wird sie zweifelsohne hier liegen – wird Deutschland jeweils einen Hauptfeind aussuchen und die anderen Fronten als zweitrangig behandeln. Einheitliches Vorgehen Englands, Frankreichs und der UdSSR könnte zwar die Handlungsfreiheit des deutschen Oberkommandos bedeutend einengen: und eben deshalb wäre ein Dreierbündnis notwendig. Aber einheitliches Handeln muß auch tatsächlich verwirklicht werden. Allerdings zeigt schon die angespannte Auseinandersetzung um die Vertragsformulierungen, wie sehr jeder Vertragspartner sich bemüht, die eigene Handlungsfreiheit auf Kosten seiner künftigen Bündnispartner zu bewahren. Wenn dieses oder jenes Mitglied der neuen Entente es für zweckmäßiger hielte, sich in einem gefährlichen Augenblick zurückzuhalten, würde ihm Hitler bereitwillig die juristische Grundlage für einen Vertragsbruch liefern: dazu würde es ausreichen, den Kriegsbeginn durch solche diplomatischen Manöver zu verschleiern, die die Bestimmung des »Aggressors« außerordentlich erschweren – wenigstens vom Standpunkt des Ententemitglieds, das an der Verschleierung der Frage interessiert ist. Doch lassen wir den Extremfall des offenen »Verrats« außer acht, bleibt dennoch die Frage nach dem Grad, in dem der Vertrag erfüllt wird. Wenn Deutschland gegen den westlichen Nachbarn losschlägt, wird England Frankreich sofort mit allen Kräften zu Hilfe kommen, weil dies das Schicksal Großbritanniens unmittelbar berührt. Die Lage sähe jedoch ganz anders aus, sollte Deutschland seine Hauptkräfte nach Osten werfen. England und Frankreich sind natürlich nicht an einem entscheidenden Sieg Deutschlands über die Sowjetunion interessiert, aber sie haben nichts gegen eine wechselseitige Schwächung dieser beiden Länder. Hitlers Aufgaben im Osten sind angesichts des wahrscheinlichen Widerstandes Polens und Rumäniens, angesichts der riesigen Räume und Bevölkerungsmassen so unermeßlich, daß sie auch bei einem für ihn günstigen Verlauf der Operationen große Kräfte und viel Zeit erfordern würden. England und Frankreich können die gesamte erste Periode, die je nach den Ereignissen von längerer oder kürzerer Dauer ist, verhältnismäßig bequem nutzen, und zwar zur Mobilmachung, zum Übersetzen der englischen Truppen über den Kanal, zur Konzentrierung der Kräfte, zur Wahl des richtigen Augenblicks, wobei sie es der Roten Armee überlassen, die ganze Last des deutschen Angriffs auszuhalten. Wenn die UdSSR dann in eine schwierige Lage gerät, können die Bündnispartner neue Bedingungen stellen, die der Kreml nicht einfach wird ablehnen können. Als Stalin im März auf dem Parteitag sagte, daß England und Frankreich an einem langwierigen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion interessiert seien, um im letzten Moment mit frischen Kräften als Schiedsrichter zu erscheinen, hatte er nicht unrecht.

Ebenso richtig ist aber, daß Moskau, sollte Hitler, nachdem er die Aufmerksamkeit durch das Spektakel um Danzig abgelenkt hat, den Hauptschlag gegen Westen führen, bereitwilligst die Vorteile seiner Lage ausnutzen wird. Seine freiwilligen und unfreiwilligen Helfer werden in dieser Beziehung die Anrainerstaaten sein. Ein direkter Einmarsch Hitlers nach Polen würde dort verständlicherweise das Mißtrauen gegenüber der UdSSR vertreiben, und die Warschauer Regierung würde die Rote Armee selbst zu Hilfe rufen. Wenn im anderen Fall Hitler nach Westen oder Süden vorgeht, würden sich Polen sowie Rumänien, in stillschweigendem Einverständnis mit dem Kreml, mit allen Kräften einem Einmarsch der Roten Armee in ihr Territorium widersetzen. Das Hauptgewicht des deutschen Schlags lastet in diesem Fall auf Frankreich. Moskau wird abwarten. Wie exakt auch immer der neue Pakt auf dem Papier formuliert sein wird, das Dreierabkommen ist nicht nur ein Militärbündnis, sondern auch ein Dreieck antagonistischer Interessen. Das Mißtrauen Moskaus ist um so natürlicher, als es niemals gelingen wird, Frankreich in Gegensatz zu England oder England in Gegensatz zu Frankreich zu bringen; dagegen finden diese Länder immer eine gemeinsame Sprache für vereinten Druck auf Moskau. Hitler kann diesen Antagonismus zwischen den Bündnispartnern mit Erfolg ausnutzen.

Aber nicht für lange. Im totalitären Lager brechen die Widersprüche vielleicht etwas später auf, aber dann um so heftiger. Selbst wenn man das ferne Tokio außer acht läßt, ist die »Achse Berlin-Rom« wohl nur kraft des gewaltigen Übergewichts Berlins gegenüber Rom und der direkten Unterwerfung Roms unter Berlin dauerhaft und verläßlich. Dadurch wird gewiß eine große Gemeinsamkeit und Schnelligkeit im Handeln erreicht. Doch nur bis zu einer gewissen Grenze. Alle drei Mitglieder dieses Lagers zeichnen sich durch das extreme Ausmaß ihrer Ansprüche aus, und ihr Appetit auf die Welt wird lange vor dem Sättigungsgrad aufeinanderprallen. Keine »Achse« wird die Last des kommenden Krieges aushalten.

Das Gesagte bestreitet selbstverständlich internationalen Verträgen und Bündnissen, die so oder anders die Ausgangslage der Staaten in einem zukünftigen Krieg bestimmen, nicht jegliche Bedeutung. Aber diese ist sehr eingeschränkt. Wenn er sich einmal von der Kette losgerissen hat, wird der Krieg schnell die Grenzen diplomatischer Abmachungen, wirtschaftlicher und militärischer Pläne überschreiten. Ein Regenschirm ist bei Londoner Nieselwetter sehr nützlich. Aber vor einem Zyklon schützt er nicht. Bevor aber ein erheblicher Teil unseres Planeten in Trümmer fällt, wird der Wirbelsturm des Krieges nicht wenige diplomatische Regenschirme zerbrechen. Die »Heiligkeit« von Bündnisverpflichtungen erweist sich als nichtiges Vorurteil, wenn die Völker sich in erstickenden Giftgaswolken krümmen. »Rette sich, wer kann!«, wird zur Parole der Regierungen, Nationen und Klassen. Verträge sind nicht dauerhafter als die Regierungen, die sie abgeschlossen haben. Die Moskauer Oligarchie wird in jedem Fall den Krieg nicht überleben, den sie aus gutem Grund fürchtet. Der Sturz Stalins wird Hitler jedoch nicht retten, der mit der Unfehlbarkeit eines Schlafwandlers in die größten historischen Katastrophen tappt. Ob dabei die anderen Teilnehmer des blutigen Spieles gewinnen, ist eine andere Frage.

erschienen in: »International Socialist Review«, Juni 1971

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