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Trotzki ~ Lernt denken


geschrieben im Mai 1938

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LEO TROTZKI

Lernt denken!

»Ein freundschaftlicher Rat an gewisse Ultralinke«

Gewisse ultralinke Berufs-Phrasendrescher versuchen um jeden Preis, die Thesen des Sekretariats der Vierten Internationale gemäß ihren eigenen verknöcherten Vorurteilen zu »korrigieren«. Insbesondere greifen sie jenen Teil der Thesen an, in dem gesagt wird, daß die revolutionäre Partei in allen imperialistischen Ländern zwar in unversöhnlicher Opposition zu ihrer eigenen Regierung bleibt, dennoch aber ihre praktische Politik in jedem Land der inneren Lage und den internationalen Konstellationen anpassen sollte, indem sie klar zwischen einem Arbeiterstaat und einem bürgerlichen Staat sowie zwischen einem Kolonialland und einem imperialistischen Land unterscheidet.

»Das Proletariat eines kapitalistischen Landes, das ein Bündnis mit der UdSSR geschlossen hat, [heißt es in den Thesen] muß seine unversöhnliche Feindschaft gegen die imperialistische Regierung seines eigenen Landes voll und ganz aufrechterhalten. In diesem Sinne wird sich seine Politik nicht von jener des Proletariats in einem Land, das gegen die UdSSR kämpft, unterscheiden. Was jedoch die praktischen Aktionen angeht, so können sich je nach der konkreten Kriegslage erhebliche Unterschiede ergeben.«

Die Ultralinken halten diese Aussage, deren Richtigkeit durch den gesamten Verlauf der Entwicklung bestätigt worden ist, für den Ausgangspunkt von… Sozialpatriotismus (Mme. Simone Weil schreibt sogar, wir verträten denselben Standpunkt wie Plechanow 1914-18).

Simone Weil hat natürlich das Recht, nichts zu verstehen, aber man sollte dieses Recht nicht mißbrauchen). Da unsere Haltung gegenüber imperialistischen Regierungen in allen Ländern »dieselbe« sein sollte, verbieten diese Strategen jegliche Unterscheidungen außerhalb der Grenzen ihres eigenen imperialistischen Landes. In theoretischer Hinsicht entspringt ihr Fehler dem Versuch, die Politik in Kriegs- und Friedenszeiten auf ganz unterschiedliche Grundlagen zu stellen.

Nehmen wir an, daß morgen in der französischen Kolonie Algerien unter dem Banner der nationalen Unabhängigkeit ein Aufstand ausbricht und daß die italienische Regierung aus ihren eigenen imperialistischen Interessen heraus Waffenlieferungen an die Rebellen vorbereitet. Welche Haltung sollten die italienischen Arbeiter in diesem Falle einnehmen? Ich habe bewußt als Beispiel einen Aufstand gegen ein demokratisches imperialistisches Land gewählt, wobei die Intervention auf seiten der Aufständischen von einem faschistischen Land ausgeht. Sollten die italienischen Arbeiter die Schiffsladungen mit Waffen an die Algerier aufhalten? Mögen die Ultralinken diese Frage zu bejahen wagen. Jeder Revolutionär würde gemeinsam mit den italienischen Arbeitern und algerischen Aufständischen eine solche Antwort empört von sich weisen. Selbst wenn im faschistischen Italien zur selben Zeit ein Generalstreik der Seeleute ausbrachen sollten die Streikenden zugunsten der Schiffe, die den aufständischen Kolonialsklaven Waffen bringen, eine Ausnahme machen; andernfalls wären sie nichts weiter als erbärmliche Gewerkschaftler, keine proletarischen Revolutionäre.

Gleichzeitig wären die französischen Seeleute und Hafenarbeiter, selbst wenn gerade kein Arbeitskampf anstünde, verpflichtet, die Verschiffung jeglicher Munition, die gegen die Rebellen eingesetzt werden soll, zu blockieren. Nur eine solche Politik seitens der italienischen und französischen Arbeiter stellt die Politik des revolutionären Internationalismus dar.

Bedeutet dies jedoch, daß die italienischen Arbeiter in diesem Falle ihren Kampf gegen die faschistische Regierung abschwächen? Nicht im geringsten. Der Faschismus leistet den Algeriern nur »Hilfe«, um seinen Gegner Frankreich zu schwächen und seine eigenen Räuberklauen nach dessen Kolonie auszustrecken. Dies vergessen die revolutionären italienischen Arbeiter keinen Augenblick. Sie rufen die Algerier auf, ihrem trügerischen »Verbündeten« nicht zu trauen, und setzen gleichzeitig ihren unversöhnlichen Kampf gegen den Faschismus, den »Hauptfeind im eigenen Land« fort. Nur auf diese Weise können sie das Vertrauen der Rebellen gewinnen, den Aufstand unterstützen und ihre eigene revolutionäre Stellung stärken.

Wenn dies in Friedenszeiten richtig ist, weshalb sollte es zu Kriegszeiten falsch werden? Jeder kennt den Satz des berühmten deutschen Militärtheoretikers Clausewitz, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Dieser tiefe Gedanke fährt naturgemäß zu der Schlußfolgerung, daß der Kampf gegen den Krieg nur die Fortsetzung des allgemeinen proletarischen Kampfes in Friedenszeiten ist. Verwirft und sabotiert das Proletariat in Friedenszeiten alle Handlungen und Maßnahmen der bürgerlichen Regierung? Selbst während eines Streiks, der eine ganze Stadt umfaßt, treffen die Arbeiter Maßnahmen, um die Belieferung ihrer Wohnviertel mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, ihre Wasserversorgung aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, daß die Krankenhäuser keinen Schaden erleiden usw. Solche Maßnahmen gehen nicht auf Opportunismus gegenüber der Bourgeoisie zurück, sondern auf die Interessen des Streiks selbst, auf Sorge um die Sympathie der betroffenen städtischen Massen usw. Diese Grundregeln der proletarischen Strategie in Friedenszeiten bleiben auch in Kriegszeiten vollauf in Kraft.

Eine unversöhnliche Haltung gegenüber dem bürgerlichen Militarismus bedeutet keineswegs, daß das Proletariat in allen Fällen einen Kampf gegen seine eigene »nationale« Armee fährt. Zumindest würden sich die Arbeiter nicht den Soldaten in den Weg stellen, die ein Feuer löschen oder während einer Flut Ertrinkende retten; im Gegenteil, sie würden sich an der Seite der Soldaten daran beteiligen und sich mit ihnen verbrüdern. Und dieses Problem betrifft nicht nur Naturkatastrophen. Sollten die französischen Faschisten heute einen Staatsstreich versuchen und würde sich die Daladier-Regierung gezwungen sehen, Truppen gegen die Faschisten einzusetzen, so würden die revolutionären Arbeiter unter Aufrechterhaltung ihrer völligen politischen Unabhängigkeit Seite an Seite mit diesen Truppen gegen die Faschisten kämpfen. In einer Reihe von Fällen sind die Arbeiter also gezwungen, die praktischen Maßnahmen einer bürgerlichen Regierung nicht nur zuzulassen und zu dulden, sondern sie aktiv zu unterstützen. In neunzig von hundert Fällen setzen die Arbeiter tatsächlich ein Minuszeichen, wo die Bourgeoisie ein Pluszeichen setzt. In zehn Fällen hingegen sind sie gezwungen, dasselbe Zeichen zu setzen wie die Bourgeoisie, es jedoch mit ihrem eigenen Siegel des Mißtrauens gegen die Bourgeoisie zu versehen. Die Politik des Proletariats leitet sich durchaus nicht automatisch aus der Politik der Bourgeoisie ab, indem sie deren Vorzeichen umkehrt (dann wäre jeder Sektierer ein Meisterstratege). Nein, die revolutionäre Partei muß sich in jedem Falle, in der inneren wie in der äußeren Lage, unabhängig orientieren und die Entscheidungen treffen, die den Interessen des Proletariats am besten entsprechen. Diese Regel gilt für Kriegszeiten genauso wie für Friedenszeiten.

Nehmen wir an, daß im nächsten europäischen Krieg das belgische Proletariat die Macht früher erobert als das Proletariat Frankreichs. Zweifellos wird Hitler versuchen, das proletarische Belgien zu zerschlagen. Um ihre eigene Flanke zu decken, könnte sich die französische bürgerliche Regierung gezwungen sehen, der belgischen Arbeiterregierung mit Waffen zu Hilfe zu kommen. Die belgischen Sowjets greifen natürlich mit beiden Händen nach diesen Waffen. Aber sollten vielleicht die französischen Arbeiter aus Gründen des prinzipiellen Defätismus die Waffenlieferungen ihrer Bourgeoisie an das proletarische Belgien blockieren? Nur direkte Verräter oder komplette Idioten können so argumentieren.

Die französische Bourgeoisie könnte dem proletarischen Belgien ausschließlich aus Angst vor der schlimmsten militärischen Bedrohung heraus Waffen schicken, und nur in der Erwartung, die proletarische Revolution später mit ihren eigenen Waffen niederzuschlagen. Für die französischen Arbeiter hingegen ist das proletarische Belgien die größte Unterstützung im Kampf gegen ihre eigene Bourgeoisie. Der Ausgang dieses Kampfes hinge in letzter Analyse vom Kräfteverhältnis ab, in dem die richtige Politik einen sehr wichtigen Faktor darstellt. Die erste Aufgabe der revolutionären Partei besteht darin, den Gegensatz zwischen zwei imperialistischen Ländern, Frankreich und Deutschland, zur Rettung des proletarischen Belgien auszunutzen.

Ultralinke Scholastiker denken nicht in konkreten Begriffen, sondern in leeren Abstraktionen. Sie haben auch die Idee des Defätismus in solch ein hohles Ding verwandelt. Weder den Prozeß des Krieges noch den Prozeß der Revolution können sie sich in seiner Lebendigkeit vorstellen. Sie suchen eine hermetisch abgeschlossene Formel, in die keine frische Luft eindringen kann. Aber eine derartige Formel kann der proletarischen Vorhut nicht zur Orientierung dienen.

Den Klassenkampf bis zu seiner höchsten Form – dem Bürgerkrieg – zu treiben, das ist die Aufgabe des Defätismus. Aber diese Aufgabe kann nur durch die revolutionäre Mobilisierung der Massen gelöst werden, d. h. durch die Verbreiterung, Vertiefung und Verschärfung jener revolutionären Methoden, die in »Friedenszeiten« den Klassenkampf ausmachen. Um die Niederlage der eigenen Bourgeoisie herbeizuführen, greift die proletarische Partei nicht nach künstlichen Methoden, wie etwa das Anzünden von Kaufhäusern, das Bombenlegen die Sabotage an Zügen usw. Selbst im Falle eines Erfolges auf diesem Wege würde die militärische Niederlage nicht zum Erfolg der Revolution führen, der nur durch die unabhängige Bewegung des Proletariats gewährleistet werden kann. Der revolutionäre Defätismus bedeutet lediglich, daß die proletarische Partei sich im Klassenkampf keinen »patriotischen« Überlegungen beugt, da die Niederlage ihrer eigenen imperialistischen Regierung, von der revolutionären Massenbewegung ausgelöst oder beschleunigt, ein unvergleichlich kleineres Übel ist als der Sieg um den Preis der nationalen Einheit, d. h. der politischen Demütigung des Proletariats. Hierin liegt die gesamte Bedeutung des Defätismus, und diese Bedeutung reicht völlig aus.

Die Kampfmethoden ändern sich natürlich, wenn der Kampf in die offen revolutionäre Phase eintritt. Der Bürgerkrieg ist ein Krieg und hat unter diesem Aspekt seine eigenen Gesetze. Im Bürgerkrieg sind das Bombenlegen in Kaufhäusern, die Entgleisung von Zügen und alle anderen Formen militärischer »Sabotage« unvermeidlich. Ihre Angemessenheit hängt von rein militärischen Erwägungen ab – der Bürgerkrieg ist die Fortsetzung der revolutionären Politik mit anderen, eben militärischen Mitteln.

Während eines imperialistischen Krieges kann es jedoch Fälle geben, in denen eine revolutionäre Partei gezwungen sein kann, zu militärtechnischen Mitteln zu greifen, selbst wenn sie sich nicht aus der revolutionären Bewegung in ihrem eigenen Land ergeben. Wenn es etwa darum geht, Waffen oder Truppen gegen eine Arbeiterregierung oder eine aufständische Kolonie zu schicken, können nicht nur Methoden wie Boykott und Streik, sondern auch direkte militärische Sabotage zu ganz praktischen und zwingenden Maßnahmen werden. Ob man zu solchen Maßnahmen greift oder nicht, wird eine Frage der praktischen Möglichkeiten sein. Wenn die belgischen Arbeiter, die im Krieg die Macht erobert haben, ihre eigenen militärischen Agenten auf deutschem Boden hätten, dann wäre es die Pflicht dieser Agenten, keine technischen Mittel zu scheuen, um Hitlers Truppen aufzuhalten. Es ist absolut klar, daß die revolutionären deutschen Arbeiter (wenn sie können) ebenso verpflichtet sind, diese Aufgabe im Interesse der belgischen Revolution zu erfüllen, ganz unabhängig vom allgemeinen Verlauf der revolutionären Bewegung in Deutschland selbst.

Die defätistische Politik, d. h. die Politik des unversöhnlichen Klassenkampfes in Kriegszeiten, kann folglich nicht in allen Ländern »dieselbe« sein, genau wie die Politik des Proletariats in Friedenszeiten nicht dieselbe sein kann. Nur die Komintern der Epigonen hat ein Regime errichtet, unter dem die Parteien aller Länder sich in Reih und Glied mit dem linken Fuß voran gleichzeitig in Marsch setzen. Im Kampf gegen diesen bürokratischen Kretinismus haben wir mehr als einmal versucht zu beweisen, daß die allgemeinen Prinzipien und Aufgaben in jedem Land unter Berücksichtigung der inneren und äußeren Umstände in die Tat umgesetzt werden müssen. Dieser Grundsatz bleibt auch in Kriegszeiten vollauf gültig.

Die Ultralinken, die nicht marxistisch – d. h. konkret – denken wollen, werden vom Krieg überrascht werden. Ihre Politik in Kriegszeiten wird die fatale Krönung ihrer Politik in Friedenszeiten sein. Bei den ersten Artilleriegeschossen wird sich ihr Ultralinkstum in politisches Nichts auflösen oder sie in das Lager des Sozialpatriotismus treiben, genau wie die spanischen Anarchisten, diese absoluten »Verneiner« des Staates, sich aus denselben Gründen als bürgerliche Minister wiederfanden, sobald der Krieg kam. Um in Kriegszeiten eine richtige Politik aufrechtzuerhalten, muß man in Friedenszeiten richtig zu denken lernen.

erschienen in »New International«, Juli 1939

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