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Trotzki ~ Parteipolitik in der Kunst


geschrieben 1923

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LEO TROTZKI

Parteipolitik in der Kunst

Gewisse marxistische Literaten haben sich ausgesprochen pogromistische Methoden den Futuristen, Serapionsbrüdern und überhaupt allen literarischen Mitläufern der Revolution gegenüber angeeignet, allen zusammen und jedem einzelnen gegenüber. Besonders wird die Hetze gegen Pilnjak Mode, worin sich sogar die Futuristen üben. Es ist unzweifelhaft, daß manche Eigentümlichkeiten Pilnjaks dazu angetan sind, Ärger zu erregen: er geht allzu leicht über die großen Fragen hinweg, zu viel Koketterie, zu viel selbstgemachter Lyrismus. Aber Pilnjak hat ausgezeichnet einen Ausschnitt der bäuerlichen Revolution in der Provinz gezeigt, hat einen Hamstererzug geschildert – wir erblicken sie dank Pilnjak unvergleichlich greller, greifbarer als vordem. Und Wsewolod Iwanow? Haben wir denn nach seinen »Partisanen«, dem »Panzerzug« und dem »Blauen Sand« mit all ihren Konstruktionssünden, dem abgehackten Stil, ja einer gewissen Kitschigkeit – haben wir Rußland in seiner unermeßlichen Weite, ethnographischen Vielfältigkeit, Rückständigkeit, in seinem Schwung nicht noch besser erkannt, noch besser erfühlt? Vielleicht kann diese gestaltende Erkenntnis ersetzt werden durch futuristische Übertreibungen oder das eintönige Besingen von Transmissionsriemen oder Zeitungsartikelchen, die tagein, tagaus die gleichen dreihundert Worte verschieden kombinieren. Streichen Sie in Gedanken Pilnjak und Wsewolod Iwanow aus unserem Alltagsleben, und wir sind um ein Jota ärmer…

Die Organisatoren des Feldzuges gegen die literarischen Mitläufer – eines Feldzuges, der unbekümmert um die Perspektiven und Proportionen geführt wird, haben auch den Genossen Woronskis zur Zielscheibe gemacht, den Redakteur der Zeitschrift »Krasnaja Nowj« [»Rotes Neuland«] und den Leiter des Verlages »Kreis«. Ihm wird Mitwisserschaft und fast Mittäterschaft in die Schuhe geschoben. Wir meinen, daß Genosse Woronski im Auftrag der Partei eine bedeutende literarisch-kulturelle Arbeit leistet und daß es wahrhaftig leichter ist, in einem Artikelchen von der Vogelperspektive aus kommunistische Kunst zu dekretieren, als an der mühseligen Vorbereitung einer solchen Kunst teilzunehmen.

Formal setzen unsere Kritiker die Linie fort, die einstmals (1908) von den Sammelbüchern »Raspad« [»Zerfall«] eingeschlagen wurde. Man muß jedoch den Unterschied der historischen Situation und eine gewisse Verschiebung im Kräfteverhältnis, die seitdem stattgefunden hat, verstehen und bewerten! Damals waren wir eine geschlagene und illegale Partei. Die Revolution befand sich im Rückzug: die Konterrevolution, sowohl die Stolypinsche wie die anarcho-mystische, marschierte auf der ganzen Linie vor. In der Partei selbst spielten die Intellektuellen noch eine unverhältnismäßig große Rolle, wobei die Intellektuellengruppen der verschiedenen Parteischattierungen so etwas wie kommunizierende Röhren darstellten. Unter diesen Umständen erforderte der geistige Selbstschutz eine wahnwitzige Abwehr gegen die literarischen Stimmungen des Katzenjammers.

Momentan findet ein ganz anderer Prozeß, im Grunde genommen ein Prozeß entgegengesetzter Art statt. Das Gesetz der sozialen Gravitation (zu Gunsten der herrschenden Klasse), das letzten Endes die Linie der intellektuellen Schaffungskraft bestimmt, wirkt gegenwärtig zu unseren Gunsten. Dementsprechend muß man die Kunstpolitik anzupassen verstehen.

Es ist nicht wahr, daß die Revolutionskunst allein von den Arbeitern geschaffen werden kann. Eben deshalb, weil die Revolution eine Arbeiterrevolution ist, macht sie – ich will mich nicht wiederholen – viel zuwenig Arbeiterkräfte für die Kunst frei. In der Epoche der Französischen Revolution wurden die größten Werke, die direkt oder indirekt die Revolution widerspiegelten, nicht von französischen Künstlern geschaffen, sondern von deutschen, englischen usw. Diejenige nationale Bourgeoisie, die unmittelbar den Umsturz vollzog, konnte nicht genügend Kräfte freimachen, um ihn zu reproduzieren und zu besiegeln. Um so mehr ist dies beim Proletariat der Fall, das wohl über eine politische, aber nur über eine geringe künstlerische Kultur verfügt. Die Intellektuellenschicht verfügt außer über alle Vorzüge ihrer formalen Qualifikation auch noch über das fragwürdige Privileg der passiven politischen Position, der sich mehr oder weniger Feindseligkeit oder Sympathie für den Oktoberumsturz beimengt. Was Wunder, daß diese beschauliche Intelligenz auf dem Gebiete der künstlerischen Wiedergabe der Revolution mehr geben konnte und mehr gibt – wenn auch mit einer gewissen Verzerrung – als das Proletariat, das die Revolution gemacht hat. Wir kennen wohl die politische Beschränktheit, die schwankende Haltung und die Unzuverlässigkeit der Mitläufer. Wenn wir aber Pilnjak mit seinem »Kahlen Jahr«, die Serapionsbrüder mit Wsewolod Iwanow, Tichonow und Polonskaja, Majakowski und Jessenin streichen – was bleibt dann übrig, außer den noch uneingelösten Wechseln auf eine noch kommende proletarische Literatur? Um so mehr, da auch Demjan Bjednin, den man weder zu den Mitläufern zählen darf, noch in der Revolutionspoesie missen kann, zu der proletarischen Literatur im Geiste des Manifestes der »Schmiede« nicht gerechnet werden kann. Was bleibt dann übrig? …

Die Partei nimmt also, ganz im Widerspruch zu ihrer Natur, auf dem Gebiete der Kunst eine rein eklektische Stellung ein? Dieses Argument, das so schlagend zu sein scheint, ist in Wirklichkeit außerordentlich naiv. Die marxistische Methode gibt die Möglichkeit, die Entwicklungsbedingungen der neuen Kunst zu beurteilen, alle ihre Veränderungen zu verfolgen und durch kritische Verfolgung der Wege die fortschrittlichsten zu fördern – aber auch nicht mehr. Ihre Wege muß die Kunst auf eigenen Füßen zurücklegen. Die Methoden des Marxismus sind nicht Methoden der Kunst. Die Partei ist Führerin des Proletariats, aber nicht des historischen Prozesses. Es gibt Gebiete, wo die Partei unmittelbar und gebieterisch leitet. Es gibt Gebiete, wo sie kontrolliert und fördert. Es gibt Gebiete, wo sie nur fördert. Es gibt schließlich Gebiete, wo sie sich nur orientiert. Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist. Sie kann und soll schützen, fordern und nur indirekt leiten. Sie kann und soll, bedingt, Kredit ihres Vertrauens den verschiedenen künstlerischen Gruppierungen gewähren, die aufrichtig bestrebt sind, der Revolution näher zu kommen, um ihre künstlerische Gestaltung zu fordern. Jedenfalls kann die Partei nicht den Standpunkt eines Literaturzirkels einnehmen, der gegen andere Literaturzirkel kämpft oder mit ihnen einfach konkurriert. Die Partei kann es nicht tun und wird es nicht tun. Die Partei steht auf dem Wachtposten der geschichtlichen Interessen der Klasse in ihrer Gesamtheit. Indem sie bewußt und schrittweise die Voraussetzungen für die neue Kultur und somit auch die neue Kunst vorbereitet, behandelt sie die literarischen Weggenossen und Mitläufer nicht als Konkurrenten der Arbeiterschriftsteller, sondern als Helfer der Arbeiterklasse, wirkliche oder mögliche Helfer im Aufbauwerk von allergrößten Dimensionen. Die Partei versteht das Episodenhafte der literarischen Gruppen der Übergangsperiode und wertet sie nicht vom Standpunkt der individuellen Klassenzeugnisse der Herren Literaten, sondern vom Standpunkte des Platzes, den diese Gruppen in der Vorbereitung der sozialistischen Kultur einnehmen oder einnehmen können. Wenn sich der Platz der betreffenden Gruppe momentan noch nicht bestimmen läßt, so kann die Partei als Partei wohlwollend und aufmerksam … abwarten. Die einzelnen Kritiker oder einfachen Leser können ihre Sympathien im vorhinein dieser oder jener Gruppierung schenken. Die Partei als Ganzes, die die historischen Interessen der Klasse wahrt, muß objektiv und weise sein. Ihre Vorsicht kann nicht anders als doppelseitig sein: wenn die Partei ihren Programmstempel der »Schmiede« nur deshalb nicht aufdrückt, weil dort Arbeiter schreiben, so stößt sie von vornherein keine einzige literarische Gruppe von sich, sei dies auch eine Intellektuellengruppe, sobald diese bestrebt ist, der Revolution entgegenzukommen und an der Festigung eines ihrer Bindeglieder – ein Bindeglied ist stets eine schwache Stelle! – mitzuarbeiten: der Bindeglieder zwischen Stadt und Land, zwischen der Partei und den Parteilosen, zwischen den Intellektuellen und den Arbeitern.

Bedeutet jedoch eine derartige Politik nicht, daß eine Flanke der Partei seitens der Kunst unverteidigt bleiben wird? Eine solche Behauptung wäre eine starke Übertreibung: die Partei wehrt die giftigen, zersetzenden Tendenzen der Kunst ab, indem sie sich von politischen Kriterien leiten läßt. Richtig ist aber auch, daß die Flanke der Kunst weniger verteidigt ist als die Front der Politik. Aber verhält es sich denn nicht genauso mit der Wissenschaft? Was werden die Metaphysiker der rein proletarischen Wissenschaft über die Relativitätstheorie sagen? Läßt sie sich mit dem Materialismus in Einklang bringen oder nicht? Ist diese Frage entschieden? Wo? Wann? Und durch wen? Daß die Arbeiten des Petrograder Physiologen Pawlow sich ganz auf der Linie des Materialismus bewegen, leuchtet auch dem Laien ein. Aber was soll man über die psychoanalytische Theorie von Freud sagen? Ist sie vereinbar mit dem Materialismus, wie es z. B. Genosse Radek glaubt (und ich ebenfalls), oder steht sie ihm feindselig gegenüber? Dieselbe Frage ist zu stellen in Bezug auf die neuen Theorien der Atomlehre usw. Es wäre ausgezeichnet, wenn sich ein Gelehrter gefunden hätte, der imstande wäre, diese neuen Verallgemeinerungen methodologisch zu fassen und sie mit der dialektisch-materialistischen Weltauffassung in Übereinstimmung zu bringen; damit hätte er ein gegenseitiges Kriterium der neuen Theorien geliefert und die dialektische Methode vertieft. Aber ich befürchte sehr, daß diese Arbeit nicht in Form von Zeitungsund Zeitschriftenartikeln, sondern als wissenschaftlich philosophisches standard work, wie »Der Ursprung der Arten« oder das »Kapital«, nicht heute und nicht morgen geschrieben werden wird, oder richtiger gesagt: wenn dieses Buch heute geschrieben werden sollte, so würde es Gefahr laufen, unaufgeschnitten zu bleiben bis zum Anbruch des Tages, wo das Proletariat die Waffen aus der Hand wird legen können.

Aber auch der Kulturismus, d. h. Aneignung der Grundelemente der vorproletarischen Kultur, setzt ja Kritik, Auswahl, Klassenkriterium voraus? Und ob! Aber dieses Kriterium ist politischer Natur und nicht abstrakt kultureller Art. Das politische Kriterium fallt mit dem kulturellen nur in dem weiten Sinne zusammen, daß die Revolution die Bedingungen der neuen Kultur vorbereitet. Aber dies bedeutet keineswegs, daß eine solche Übereinstimmung in jedem einzelnen Falle gesichert ist. Wenn die Revolution berechtigt ist, nötigenfalls Brücken und Kunstdenkmäler zu zerstören, so wird sie um so weniger davor Halt machen, auf eine beliebige Kunstrichtung die Hand zu legen, die bei sonstigen formalen Errungenschaften droht, Elemente der Zersetzung in das revolutionäre Milieu zu tragen oder die inneren Kräfte der Revolution: das Proletariat, die Bauernschaft, die Intellektuellen einander feindlich gegenüberzustellen. Unser Kriterium ist ein ausgesprochen politisches, gebieterisches und intolerantes Kriterium. Aber gerade deshalb muß es deutlich die Grenzen seines Aktionsbereiches zeichnen. Um noch deutlicher zu sein, will ich sagen: unter einer wachsamen revolutionären Zensur kann eine weitgehende und elastische Kunstpolitik getrieben werden, der die Giftspritzerei der Literatenzirkel fremd ist.

Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire, laisser passer (die Dinge ihrem freien Lauf überlassen) frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind; in welchen Fällen, worin die Partei die Wahl treffen muß. Und diese Frage ist gar nicht so einfach, wie es die Theoretiker der »Lef«, die Verkünder der proletarischen Literatur und die Hetzkumpane glauben möchten.

Die Ziele, Aufgaben und Methoden der Arbeiterklasse sind in der Wirtschaft unvergleichlich konkreter, bestimmter und theoretisch mehr ausgearbeitet als in der Kunst. Dessen ungeachtet hat die Partei nach dem kurzen Versuch des Aufbaus der Wirtschaft nach zentralistischen Methoden sich genötigt gesehen, das parallele Bestehen der verschiedenen und selbst sich gegenseitig bekämpfenden Wirtschaftstypen zuzulassen; wir haben gleichzeitig die in Trusts organisierte Staatsindustrie, sowohl Betriebe von lokaler Bedeutung, verpachtete und konzessionierte Betriebe, Privateigentum und Genossenschaften, die individuelle Bauemwirtschaft, die Werkstätte des Heimarbeiters, Kollektivwerkstätten usw. Der Grundkurs des Staates steuert auf die zentralisierte sozialistische Wirtschaft hin. Aber diese allgemeine Tendenz schließt in sich die betreffende Periode einer weitgehenden Unterstützung der Bauernwirtschaft und der Heimarbeit ein. Ohne diese wird der Kurs auf eine sozialistische Großindustrie zur unlebendigen Abstraktion.

Die Sowjetrepublik ist eine Union der Arbeiter, Bauern und ihrer Abstammung nach kleinbürgerlichen Intellektuellen, unter Leitung der Kommunistischen Partei. Aus dieser sozialen Kombination soll bei Hebung der Technik und Kultur sich in einer Reihe von Etappen die kommunistische Gesellschaft entwickeln. Es ist klar, daß die Bauernschaft und die Intellektuellen zum Kommunismus auf andern Wegen gelangen werden als die Arbeiter. Ihre Wege werden nicht ohne Widerspiegelung in der Literatur bleiben. Derjenige Teil der Intellektuellen, der sein Geschick nicht ungeteilt an das Proletariat geknüpft hat, d. h. der nichtkommunistische Teil der Intellektuellen, also die überwiegende Majorität, sucht wegen Mangel oder richtiger wegen der außerordentlichen Schwäche der bürgerlichen Stütze einen Stützpunkt in der Bauernschaft. Einstweilen trägt dieser Prozeß einen rein vorbereitenden, mehr symbolischen Charakter und drückt sich in der Idealisierung des revolutionären Geistes des Muschiks (im nachhinein) aus. Diese eigentümliche, neue Narodnikitendenz ist für alle Mitläufer charakteristisch. Später, mit dem Wachstum der Schulen und der Leser auf dem Lande, kann die Verbindung dieser Kunst mit dem Bauerntum organischer werden. Zugleich wird die Bauernschaft ihre eigene schöpferische Intelligenz produzieren. Die bäuerliche Methode ist – in der Wirtschaft, in der Politik, in der Kunst – primitiver, beschränkter, egoistischer als die proletarische. Aber diese bäuerliche Methode, diese andere Art der Behandlung existiert, und zwar ist das eine Tatsache. Wenn der Künstler, der das Leben anpackt unter bäuerlichem und meistenteils unter bäuerlich-intellektuellem Gesichtswinkel, getragen ist vom Gedanken der Notwendigkeit und der Lebensfähigkeit des Bündnisses zwischen den Arbeitern und den Bauern, so wird sein Werk unter den sonst notwendigen Bedingungen historisch fortschrittlich sein. Er wird durch Methoden des künstlerischen Schaffens die notwendige historische Kollaboration des Landes mit der Stadt befestigen. Das Vorwärtsschreiten des Bauerntums dem Sozialismus entgegen bildet einen tiefen, inhaltsreichen, vielgestaltigen und farbenreichen Prozeß, und wir haben allen Grund zu glauben, daß die künstlerische Schöpfung, die unmittelbar von diesem Prozeß ausgelöst wird, der Kunst wertvolle Kapitel hinzufügen wird. Hingegen ist jene Methode, die das organische, seit Jahrhunderten geheiligte, einheitliche, »nationale« Dorf der nicht-bodenständigen Stadt entgegensetzt, historisch reaktionär. Die Kunst, die sich daraus ergibt, ist dem Proletariat feindlich, mit der Entwicklung unvereinbar und der Entartung geweiht. Es ist anzunehmen, daß sie auch in formaler Hinsicht nichts geben kann außer Wiederholungen und Erinnerungen.

Der Dichter Klujew [moderner, dem Bauerntum entstammender Dichter; Anm. d. Übers.], die Imaginisten, die Serapionsbrüder, Pilnjak, sogar die Futuristen wie Chlebnikow, Krutschenych und Kamenski haben einen muschikistischen Unterton, die einen mehr, die andern weniger bewußt; bei den einen ist es ein organischer, bei den andern im Grunde genommen ein bürgerlicher Unterton, in eine muschikistische Sprache übertragen. Das Verhältnis zum Proletariat ist am wenigsten zwiespältig bei den Futuristen. Die Serapionsbrüder, die Imaginisten und Pilnjak weisen hie und da die Tendenz zur Opposition gegen das Proletariat auf, wenigstens bis vor kurzem taten sie es noch. Alle diese Gruppen widerspiegeln in sehr gebrochener Gestalt die Mentalität des Dorfes aus der Zeit der Zwangserfassung des Getreides. In jenen Jahren hatten die Intellektuellen Zuflucht vor dem Hunger in den Dörfern gesucht und sammelten dort ihre Eindrücke. In ihrer Kunstleistung haben sie dafür ein ziemlich zweideutiges Fazit gezogen. Aber dieses Fazit darf nicht anders betrachtet werden als in der Umrahmung der Periode, die mit dem Kronstadter Aufstand beschlossen wird. Momentan findet in der Bauernschaft ein bedeutender Umschwung statt. Er wirkt sich bei den Intellektuellen aus und kann sich, ja muß sich sogar in den Schöpfungen der »muschikierenden« Mitläufer offenbaren. Dies ist zum Teil jetzt schon der Fall. In diesen Gruppierungen werden unter Einfluß der sozialen Erschütterungen innere Kämpfe, Spaltungen, neue Bildungen stattfinden. All das muß sehr aufmerksam und kritisch verfolgt werden. Die Partei, die, wie wir hoffen, nicht ohne einen gewissen Grund auf ihre geistige Führerrolle Anspruch erhebt, hat kein Recht, an dieser Frage mit billigen Redensarten vorüberzugehen.

Aber kann denn nicht eine rein proletarische Kunst großen Maßstabes auch die Fortbewegung des Bauerntums zum Sozialismus hin beleuchten und nähren? Natürlich »kann« sie es, ebenso wie die staatliche Elektrizitätsstation mit ihrer Energie die Bauernhütte, den Stall, die Mühle beleuchten und nähren »kann«. Man braucht nur diese Elektrizitätsstation und von ihr aus eine Leitung nach dem Dorfe zu haben. Dann wird, nebenbei bemerkt, auch die Gefahr des Antagonismus zwischen der Industrie und der Landwirtschaft fortfallen. Aber wir haben ja noch keine Leitung, es fehlt noch die Elektrizitätsstation selbst, es fehlt die proletarische Kunst. Die Kunst mit proletarischer Orientierung einschließlich der Gruppierungen der Arbeiterdichter und kommunistischen Futuristen hat es zur künstlerischen Gestaltung der Probleme von Stadt und Land nicht viel weiter gebracht als, sagen wir, die Sowjetindustrie zur Bewältigung der universalen Wirtschaftsaufgaben.

Aber selbst wenn wir das Bauerntum beiseite lassen – doch wie soll man es beiseite lassen? –, so wird sich herausstellen, daß es sich auch mit dem Proletariat, der Grundklasse der Sowjetgesellschaft, nicht ganz so einfach verhält, wie es auf den Seiten der Zeitschrift »Lef« erscheinen will. Wenn die Futuristen dafür sind, daß man die alte individualistische Literatur über Bord wirft, und zwar nicht allein deshalb, weil sie formal veraltet sei, sondern auch weil – ein Argument für uns Arme! – sie der kollektivistischen Natur des Proletariats widerspricht, so legen sie ein ziemlich mangelhaftes Verständnis für die dialektische Natur des Gegensatzes von Individualismus und Kollektivismus an den Tag. Es gibt keine abstrakte Wahrheit. Individualismus ist Individualismus. Aus lauter Individualismus hatte sich ein Teil der vorrevolutionären Intellektuellen in die Mystik gestürzt, ein anderer Teil plätscherte in der chaotisch-futuristischen Linie und kam, als er von der Revolution erfaßt wurde – zu seiner Ehre sei es gesagt –, dem Proletariat näher. Wenn aber diese letzteren den individualistischen bitteren Nachgeschmack in ihrem Munde auf das Proletariat übertragen, so kann man sie nicht ganz des Egozentrismus, d.h. eines extremen Individualismus freisprechen. Das ganze Unglück ist nur, daß dem einfachen Proletarier diese Eigenart ganz abgeht. Die proletarische Individualität hat sich in ihrer Masse nicht genügend formiert und differenziert. Der wertvollste Inhalt des kulturellen Aufstieges, an dessen Schwelle wir jetzt stehen, wird namentlich die Steigerung der objektiven Qualifikation und des subjektiven Selbstbewußtseins der Persönlichkeit sein. Es wäre naiv, zu behaupten, daß die bürgerlich-künstlerische Literatur imstande sein würde, eine Bresche zu schlagen in die Klassensolidarität. Das, was dem Arbeiter Shakespeare, Goethe, Puschkin oder Dostojewski geben werden, ist vor allem eine komplizierte Vorstellung über die menschliche Persönlichkeit, ihre Leidenschaften und Empfindungen; er wird dann tiefer und feiner ihre physischen Kräfte, die Rolle des Unbewußten usw. verstehen. Das Ergebnis wird eine innere Bereicherung sein. Gorki in seiner ersten Periode war von einem romantisch-lumpenproletarischen Individualismus durchdrungen. Indessen nährte er den Frühlingsgeist der Revolution des Proletariats vor 1905, denn er förderte das Erwachen der Persönlichkeit in jener Klasse, wo die einmal geweckte Persönlichkeit Verbindung sucht mit der andern geweckten Individualität. Das Proletariat bedarf der künstlerischen Nahrung und Erziehung, aber man darf nicht glauben, daß das Proletariat eine Tonmasse sei, aus der die Künstler, die toten und noch lebenden, nach ihrem Abbild kneten und modeln.

Das Proletariat, das geistig und folglich auch künstlerisch sehr empfänglich ist, ist ästhetisch noch nicht erzogen. Man darf wohl kaum annehmen, daß es einfach dort anfangen kann, wo die bürgerliche Intelligenz vor Ausbruch der Katastrophe stehengeblieben war. Wie das Individuum in seiner Entwicklung aus dem Keime, biologisch und psychologisch, die Geschichte seiner Gattung und zum Teil des ganzen Tierlebens wiederholt, so muß, bis zu einem gewissen Grade, die neue Klasse, die in ihrer überwiegenden Majorität erst vor kurzem das fast prähistorische Sein verlassen hat, am eigenen Leibe die ganze Geschichte der künstlerischen Kultur wiederholen. Sie kann nicht den Aufbau der Kultur neuen Stils in Angriff nehmen, bevor sie die Elemente der alten Kulturen in sich aufgenommen und assimiliert hat. Dies bedeutet keinesfalls die Notwendigkeit, daß langsam und systematisch, von Stufe zu Stufe die ganze vergangene Geschichte der Kunst durchgemacht werde. Der Prozeß der Aneignung und Verarbeitung hat, soweit es sich nicht um das biologische Individuum, sondern um eine soziale Klasse handelt, einen viel freieren und bewußteren Charakter. Es gibt aber keine Vorwärtsbewegung für die neue Klasse ohne Rückschau auf die wichtigsten Grenzpfähle der Vergangenheit.

Der linke Flügel der alten Kunst, dem die Revolution den sozialen Boden entzogen hat mit einer Entschiedenheit, wie sie in der Geschichte noch nicht vorkam, sieht sich gezwungen, im Kampfe um die Erhaltung der Stetigkeit der künstlerischen Kultur eine Stütze zu suchen im Proletariat oder wenigstens in der sich rings um das Proletariat bildenden neuen Gesellschaftssphäre. Andererseits sehen wir, wie das Proletariat, das die Lage der herrschenden Klasse genießt, überhaupt nach Kunst strebt und ihrer teilhaftig zu werden beginnt, indem es für sie eine Basis von noch nie dagewesener Wucht vorbereitet. In diesem Sinne trifft es zu, daß die Wandzeitungen der Betriebe eine höchst notwendige, wenn auch noch recht entfernte Voraussetzung der kommenden neuen Literatur darstellen. Aber niemand wird natürlich sagen: auf alles übrige verzichten wir, solange das Proletariat sich von den Wandzeitungen nicht zur selbständigen künstlerischen Meisterschaft emporgeschwungen haben wird. Auch das Proletariat braucht eine Stetigkeit der schöpferischen Tradition. Es verwirklicht sie momentan viel mehr indirekt als direkt über die bürgerliche schöpferische Intelligenz, die mehr oder weniger mit ihm sympathisiert oder unter seinen Fittichen Zuflucht sucht und die das Proletariat zum Teil duldet, zum anderen Teil unterstützt, zum dritten halb adoptiert und zum vierten ganz assimiliert.

Durch diese Kompliziertheit des Prozesses, seine innere Vielgestaltigkeit, wird eben die Kunstpolitik der Kommunistischen Partei bestimmt. Diese Politik läßt sich nicht auf eine Formel zurückführen, die kürzer wäre als ein Spatzenschnabel. Aber das braucht man ja auch gar nicht.

erstmalig in deutscher Sprache in: »Literatur und Revolution« (1924)

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