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Luxemburg ~ Der Wiederaufbau der Internationale |
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geschrieben Anfang 1915 |
Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen. Alle Versuche, diese Tatsache zu leugnen, zu verschleiern oder zu beschönigen, haben, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorgehen mögen, objektiv nur die Tendenz, jene fatalen Selbsttäuschungen der sozialistischen Parteien, jene inneren Gebrechen der Bewegung, die zum Zusammenbruch geführt hatten, zu verewigen, zum bewussten Normalzustand zu erheben, die sozialistische Internationale auf die Dauer zur Fiktion, zur Heuchelei zu machen.
Der Zusammenbruch selbst ist ein in der Geschichte aller Zeiten beispielloser. Begeisterte Sozialimperialisten in Deutschland versteigen sich in ihren zügellosen Delirien Neubekehrter zu der Behauptung, der gegenwärtige Krieg gleiche in seiner umwälzenden weltgeschichtlichen Bedeutung der Völkerwanderung. Wir vermögen nicht zu ermessen, ob diese patriotische Hyperbel stimmt. Jedenfalls aber wird einst der Historiker als die frappanteste weltgeschichtliche Tatsache dieses Krieges zweifellos das völlige Versagen des Proletariats als Klasse, der Sozialdemokratie als seiner Führerin verzeichnen müssen.
Sozialismus oder Imperialismus – diese Alternative war die erschöpfende Zusammenfassung der politischen Orientierung der Arbeiterparteien im letzten Jahrzehnt. Sie wurde namentlich in Deutschland in zahllosen Programmreden, Volksversammlungen, Broschüren und Zeitungsartikeln als die Losung der Sozialdemokratie, als ihre Auffassung der gegenwärtigen Geschichtsphase und deren Tendenz formuliert.
Mit dem Ausbruch des heutigen Weltkrieges ist das Wort zum Fleische, die Alternative aus einer geschichtlichen Tendenz zur politischen Situation geworden. Gestellt vor diese Alternative, die sie zuerst erkannt und zum Bewusstsein der Volksmassen gebracht hatte, strich die Sozialdemokratie die Segel, räumte kampflos dem Imperialismus den Sieg ein. Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte wie die deutsche Sozialdemokratie. An ihr, gerade weil sie der bestorganisierte, bestdisziplinierte, geschulteste Vortrupp der Internationale war, lässt sich der heutige Zusammenbruch des Sozialismus am klassischsten nachweisen.
Kautsky, der als Vertreter des sogenannten »marxistischen Zentrums« oder, politisch gesprochen, als der Theoretiker des Sumpfes schon seit Jahren die Theorie zur willfährigen Magd der offiziellen Praxis der »Parteiinstanzen« degradiert und dadurch zu dem heutigen Zusammenbruch der Partei redlich beigetragen hat, hat auch jetzt schon eine neue Theorie gerade zur Rechtfertigung und Beschönigung des Zusammenbruchs zurechtgedacht. Danach soll die Sozialdemokratie zwar ein Instrument des Friedens, aber kein Mittel gegen den Krieg sein. Oder, wie Kautskys getreue Schüler im österreichischen »Kampf« mit vielen Seufzern über die heutigen Verirrungen der deutschen Sozialdemokratie dekretieren, die einzige Politik, die dem Sozialismus während des Krieges gezieme, sei »das Schweigen«; erst wenn die Friedensglocken läuten, beginne er wieder in Funktion zu treten. [1] Diese Theorie des freiwillig übernommenen Eunuchentums, die die Tugend des Sozialismus nur dadurch wahren zu können glaubt, dass sie ihn in den entscheidenden Momenten der Weltgeschichte als Faktor ausschaltet, leidet am Grundfehler aller Rechnungen der politischen Impotenz: dass sie nämlich ohne den Wirt gemacht ist.
Gestellt vor die Alternative: für oder gegen den Krieg, ist die Sozialdemokratie in dem Augenblick, wo sie das »Gegen« preisgegeben hat, durch der Geschichte ehernes Muss gezwungen worden, ihr volles Gewicht für den Krieg in die Waagschale zu werfen. Derselbe Kautsky, der in der denkwürdigen Fraktionsberatung des 3. August für die Bewilligung der Kredite plädierte, und dieselben »Austromarxisten« (wie sie sich selbst nennen), die auch jetzt im »Kampf« die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Fraktion als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen, vergießen gelegentlich Tränen über die nationalistischen Exzesse der sozialdemokratischen Parteiorgane und über die ungenügende theoretische Schulung, namentlich in der haarscharfen Zerspaltung des Begriffes »Nationalität« und anderer »Begriffe«, die angeblich an jenen Verirrungen schuld sei. Aber die Dinge haben ihre Logik, auch wo die Menschen sie nicht haben wollen. Nachdem die Sozialdemokratie sich mit ihrer parlamentarischen Vertretung für die Unterstützung des Krieges entschieden hatte, wickelte sich alles andere von selbst mit der Unabwendbarkeit des historischen Geschickes ab. Mit dem 4. August hat die deutsche Sozialdemokratie, weit entfernt zu »schweigen«, eine hochwichtige geschichtliche Funktion übernommen: die des Schildknappen des Imperialismus im gegenwärtigen Kriege. Napoleon sagte einmal, zwei Faktoren entscheiden über den Ausgang einer Schlacht, der »irdische« Faktor, als da sind Terrain, Beschaffenheit der Waffen, atmosphärische Wirkungen usw., und der »göttliche« Faktor, d. h. die moralische Verfassung des Heeres, seine Begeisterung, sein Glaube an die eigene Sache. Für den »irdischen« Faktor im gegenwärtigen Kriege sorgte auf deutscher Seite am meisten die Firma Krupp in Essen, der »göttliche« kommt in erster Linie auf das Konto der Sozialdemokratie. Die Dienste, die diese der deutschen Kriegführung seit dem 4. August geleistet hat und jeden Tag leistet, sind unermesslich. Die Gewerkschaften, die mit dem Ausbruch des Krieges alle Lohnkämpfe an den Nagel gehängt, später Arbeitskräfte im Überfluss an die Agrarier zur Erledigung der Ernte geliefert haben, die alle Sicherheitsmaßnahmen der Militärbehörden zur Verhütung von Volksunruhen mit dem Nimbus des »Sozialismus« umgeben und gegenwärtig ihre Mitglieder zur glatten Verteilung der Brotrationen kommandieren; die sozialdemokratischen Frauen, die Arm in Arm mit bürgerlichen Patriotinnen Bettelsuppen austeilen und ihre ganze Zeit und Kraft der sozialdemokratischen Agitation entziehen, um sie zur Beschwichtigung und Erheiterung der Kriegerfamilien zu verwenden; die sozialdemokratische Presse, die mit etwa 5 bis 6 Ausnahmen ihre 95 Tageblätter, Wochen- und Monatsschriften dazu gebraucht, um die Kunde von den Siegen der deutschen Waffen in ihrem ganzen Glanze in die breitesten Volksschichten zu tragen, um alle strategischen Orientierungen der Militärbehörden kommentarlos zu verbreiten, um aus eigenem den Krieg als nationale Sache und Sache des Proletariats zu propagieren, um je nach der Wendung des Krieges die Russengefahr und die Gräuel der Zarenregierung auszumalen, das perfide Albion dem Hasse des Volkes preiszugeben, über die Aufstände und Revolutionen in fremden Kolonien zu jubeln, die Wiedererstarkung der Türkei nach diesem Kriege zu prophezeien, den Polen, Ruthenen [Ukrainern] und allen Völkern die Freiheit zu versprechen, der proletarischen Jugend kriegerische Tapferkeit und Heldenmut beizubringen, kurz, die öffentliche Meinung und die Volksmasse vollkommen für die Ideologie des Krieges zu bearbeiten; die sozialdemokratischen Parlamentarier und Parteiführer endlich, die nicht bloß Geldmittel für die Kriegführung bewilligen, sondern jede beunruhigende Regung des Zweifels und der Kritik, alle »Quertreibereien« in den Volksmassen schneidig zu ersticken suchen, ihrerseits aber durch persönliche Dienste diskreter Natur wie durch Broschüren, Reden und Artikel von echtestem deutsch-nationalem Patriotismus die Regierung unterstützen – wo war ein Krieg in der Weltgeschichte, in dem Ähnliches geschah?
Wo und wann ist die Aufhebung aller Verfassungsrechte mit solcher Selbstverständlichkeit und Ergebung hingenommen worden? Wo ist je der strengsten Pressezensur aus den Reihen der Opposition ein solcher Hymnus gesungen worden wie in einem Blatte der deutschen Sozialdemokratie? Noch nie hat ein Krieg solche Pindare, nie eine Militärdiktatur solche Mamelucken gefunden, nie hat eine politische Partei alles, was sie war und besaß, so inbrünstig auf dem Altar einer Sache hingegeben, gegen die bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen sie sich und der Welt tausendmal schwor. Die Nationalliberalen sind römische Catos, Rochers de bronze [frz.: »eherne Felsen«], verglichen mit dieser Wandlung. Gerade die mächtige Organisation, gerade die vielgepriesene Disziplin der deutschen Sozialdemokratie bewährten sich darin, dass der vier Millionen starke Körper sich auf Kommando einer Handvoll Parlamentarier in vierundzwanzig Stunden wenden und vor einen Wagen spannen ließ, gegen den Sturm zu laufen sein Lebensziel war. Die fünfzigjährige Vorbereitungsarbeit der Sozialdemokratie realisiert sich im heutigen Kriege, dessen Wucht und siegreiche Kraft auf deutscher Seite von den Gewerkschaften wie von Parteiführern in hohem Maße als Frucht der »Schulung« der Massen in den proletarischen Organisationen beansprucht wird. Marx, Engels und Lassalle, Liebknecht, Bebel und Singer schulten das deutsche Proletariat, damit Hindenburg es führen kann. Und je höher die Schulung, die Organisation, die berühmte Disziplin, der Ausbau der Gewerkschaften und der Arbeiterpresse in Deutschland als in Frankreich, um so wirksamer die Kriegshilfe der deutschen Sozialdemokratie im Vergleich mit derjenigen der französischen. Mitsamt ihren naiven Ministern sind die Sozialisten Frankreichs im ungewohnten Handwerk des Nationalismus und der Kriegführung wahre Stümper gegen die Dienste, die die deutsche Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften dem vaterländischen Imperialismus leisten.
Die offizielle Theorie, die den Marxismus für den jeweiligen Hausbedarf der Parteiinstanzen zur Rechtfertigung ihrer Tagesgeschäfte nach Belieben missbraucht und deren Organ die »Neue Zeit« ist, versucht die kleine Unstimmigkeit zwischen der heutigen Funktion der Arbeiterpartei und ihren gestrigen Worten dadurch zu erklären, dass der internationale Sozialismus sich zwar viel mit der Frage beschäftigt habe, was gegen den Ausbruch des Krieges, nicht aber damit, was nach seinem Ausbruche zu unternehmen sei. [2] Als gefälliges Mädchen für alle versichert uns diese Theorie, dass zwischen der heutigen Praxis des Sozialismus und seiner Vergangenheit die schönste Harmonie obwalte, dass »keine der sozialistischen Parteien sich etwas vorzuwerfen hätte, was ihre Zugehörigkeit zur Internationale in Frage stellen würde«. Gleichzeitig hat aber diese schmiegsame und biegsame Theorie auch schon eine ausreichende Erklärung in der Tasche für den Widerspruch zwischen der heutigen Position der internationalen Sozialdemokratie und ihrer Vergangenheit, ein Widerspruch, der nun doch das blödeste Auge schlägt. Die Internationale habe nur die Frage der Verhütung des Krieges ventiliert. Nun aber »war der Krieg da«, wie die Formel heißt, und nun stellte es sich heraus, dass nach Ausbruch des Krieges ganz andere Verhaltensregeln für die Sozialisten gelten als vor demselben. Sobald der Krieg da sei, gelte für jedes Proletariat nur noch die Frage, ob Sieg oder Niederlage. Oder wie ein anderer »Austromarxist«, Fr. Adler, mehr naturwissenschaftlich-philosophisch erklärt: die Nation müsse wie jeder Organismus vor allem ihr Dasein behaupten. Auf gut deutsch heißt das: Es gibt für das Proletariat nicht eine Lebensregel, wie es der wissenschaftliche Sozialismus bisher verkündete, sondern es gibt deren zwei: eine für den Frieden und eine für den Krieg. Im Frieden gelte im Innern jedes Landes der Klassenkampf, nach außen die internationale Solidarität, im Kriege gelte im Innern die Klassensolidarität, nach außen der Kampf zwischen den Arbeitern verschiedener Länder. Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun nach Kautskys Korrektur: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege! Also heute »Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos«, und morgen, nach Friedensschluss »Seid umschlungen Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt«, Denn die Internationale ist »im wesentlichen ein Friedensinstrument«, aber »kein wirksames Werkzeug im Kriege«. [3]
Diese gefällige Theorie eröffnet nicht bloß reizvolle Perspektiven für die sozialdemokratische Praxis, indem sie die Wandelbarkeit der Fraktion Drehscheibe [Spottname für die Nationalliberalen], gepaart mit dem Jesuitismus des Zentrums, geradezu zum Grunddogma der sozialistischen Internationale erhebt. Sie inauguriert auch noch eine ganz neue »Revision« des historischen Materialismus, eine Revision, gegen die alle ehemaligen Versuche Bernsteins als ein harmloses Kinderspiel erscheinen. Die proletarische Taktik vor Ausbruch des Krieges und nach demselben soll ganz verschieden, ja direkt entgegengesetzten Richtlinien folgen. Das setzt voraus, dass auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die Grundlagen unserer Taktik, im Frieden und im Kriege grundverschieden sind. Nach dem Marxschen historischen Materialismus ist die ganze bisherige geschriebene Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. Nach dem Kautskyschen revidierten Materialismus muss hinzugefügt werden: ausgenommen die Kriegszeiten. Demnach verläuft die gesellschaftliche Entwicklung, da sie seit Jahrtausenden von Kriegen periodisch durchsetzt ist, nach folgendem Schema: eine Periode der Klassenkämpfe, darauf Pause, worin Zusammenschluss der Klassen und nationale Kämpfe, darauf wieder eine Periode der Klassenkämpfe: wieder Pause und Zusammenschluss der Klassen und so mit Grazie fort. Jedes Mal werden die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens im Frieden durch den Kriegsausbruch auf den Kopf gestellt, die der Kriegsperiode mit dem Augenblick des Friedensschlusses umgestülpt. Das ist schon, wie man sieht, nicht mehr eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung »in Katastrophen«, gegen die sich Kautsky einst mit anderen »Quertreibern« zu wehren hatte; das ist eine Theorie der Entwicklung – in Purzelbäumen. Die Gesellschaft bewegt sich hier etwa wie der treibende Eisberg im Frühlingsgewässer, der, wenn seine Basis im lauen Strom ringsherum abgeschmolzen ist, nach einer gewissen Zeit den Kopfsturz macht, worauf sich dasselbe niedliche Spiel periodisch wiederholt.
Nun schlagen aber diesem revidierten Geschichtsmaterialismus nicht bloß alle bekannten Tatsachen der bisherigen Geschichte derb ins Gesicht, indem sie statt des frisch konstruierten Gegensatzes zwischen Krieg und Klassenkampf vielmehr schon sinnenfällig einen ständigen dialektischen Umschlag der Kriege in Klassenkämpfe und der Klassenkämpfe in Kriege und so ihre innere Wesenseinheit aufzeigen. So in den Kriegen der mittelalterlichen Städtegeschichte, so in den Reformationskriegen, so in dem niederländischen Befreiungskrieg, so in den Kriegen der Großen Französischen Revolution, so in dem amerikanischen Sezessionskrieg, so in dem Pariser Kommuneaufstand, so in der großen russischen Revolution des Jahres 1905. Auch rein abstrakt-theoretisch genommen, lässt Kautskys Theorie des historischen Materialismus von der marxistischen Theorie, wie eine kurze Überlegung klarmacht, nicht einen Stein auf dem anderen bestehen. Wenn nämlich, wie die Marxsche Geschichtsauffassung annimmt, sowohl Klassenkampf wie Krieg nicht vom Himmel fallen, sondern sich aus tiefliegenden ökonomisch-sozialen Ursachen ergeben, dann können beide nicht periodisch schwinden, wenn ihre Ursachen sich nicht in blauen Dunst auflösen. Nun ist der proletarische Klassenkampf nur eine notwendige Folgeerscheinung des Lohnverhältnisses wie der politischen Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Aber während des Krieges schwindet das Lohnverhältnis nicht im geringsten, im Gegenteil, die Ausbeutung wird durch Spekulation und Gründerfieber, die auf dem üppigen Boden der Kriegsindustrie blühen, sowie durch den Druck der Militärdiktatur auf die Arbeiter gewaltsam gesteigert. Die politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie hört ebenso wenig im Kriege auf, im Gegenteil, sie wird durch die Aufhebung der Verfassungsrechte zur nackten Klassendiktatur erhoben. Wie kann also, da die ökonomischen und politischen Quellen des Klassenkampfes im Kriege zehnfach stärker in der Gesellschaft sprudeln, ihre unausbleibliche Folge, der Klassenkampf, aufhören? Umgekehrt ergeben sich Kriege der heutigen Geschichtsperiode aus den Konkurrenzinteressen der Kapitalistengruppen und aus dem Ausdehnungsbedürfnis des Kapitals. Beide Triebfedern wirken aber nicht bloß, während die Kanonen dröhnen, sondern auch in den Friedenszeiten, wodurch sie gerade den Ausbruch der Kriege vorbereiten und unvermeidlich machen. Ist doch der Krieg – wie Kautsky mit Vorliebe aus Clausewitz zitiert – nur »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Und hat doch gerade die imperialistische Phase der Kapitalsherrschaft durch das Wettrüsten den Frieden illusorisch gemacht, indem sie im Grunde genommen die Diktatur des Militarismus, den Krieg in Permanenz erklärt hat.
Daraus ergibt sich für den revidierten Geschichtsmaterialismus ein Entweder – Oder. Entweder ist der Klassenkampf auch im Kriege das übermächtige Daseinsgesetz des Proletariats und die Proklamierung der Klassenharmonie an dessen Stelle im Kriege durch die Parteiinstanzen ein Frevel wider die proletarischen Lebensinteressen, oder der Klassenkampf ist auch im Frieden ein Frevel gegen die »nationalen Interessen« und die »Sicherheit des Vaterlandes«. Entweder der Klassenkampf oder die Klassenharmonie ist der fundamentale Faktor des gesellschaftlichen Lebens im Kriege wie im Frieden. Praktisch sieht die Alternative noch deutlicher aus: Entweder wird die Sozialdemokratie, wie ehemalige junge Draufgänger und heutige alte Betschwestern in unseren Reihen bereits reumütig ankündigen, vor der vaterländischen Bourgeoisie pater, peccavi sagen und auch im Frieden ihre ganze Taktik und ihre Grundsätze gründlich revidieren müssen, um sich ihrer heutigen sozialimperialistischen Position anzupassen, oder sie wird vor dem internationalen Proletariat pater, peccavi sagen und ihr Verhalten im Kriege ihren Prinzipien im Frieden anpassen müssen. Und was für die deutsche, gilt hier selbstverständlich auch für die französische Arbeiterbewegung. Entweder bleibt die Internationale ein Haufen Trümmer auch nach dem Kriege, oder ihre Auferstehung beginnt auf dem Boden des Klassenkampfes, aus dem sie allein ihre Lebenssäfte zieht. Sie wird nicht etwa durch das Hervorziehen des alten Leierkastens nach dem Kriege wieder aufleben, auf dem frisch-fromm-fröhlich und frei, wie wenn nichts geschehen wäre, die alten Melodien vorgeleiert werden, die bis zum 4. August die Welt bezauberten. Nur durch eine »grausam gründliche Verhöhnung der eigenen Halbheiten und Schwächen«, des eigenen moralischen Falls seit dem 4. August, durch die Liquidierung der ganzen Taktik seit dem 4. August kann der Wiederaufbau der Internationale beginnen. Und der erste Schritt in dieser Richtung ist die Aktion für die baldigste Beendigung des Krieges wie für die Gestaltung des Friedens nach dem gemeinsamen Interesse des internationalen Proletariats.
Zwei verschiedene Richtungen sind bis jetzt in den Reihen der Partei in bezug auf die Frage des Friedens in den Vordergrund getreten. Die eine, durch das Parteivorstandsmitglied Scheidemann, durch mehrere andere Reichstagsabgeordnete und Parteiblätter vertreten, gibt als Echo der Regierung die Losung des »Durchhaltens« aus und bekämpft die Bewegung für den Frieden als unzeitgemäß und gefährlich für die militärischen Interessen des Vaterlandes. Diese Richtung befürwortet die Fortsetzung des Krieges, sorgt also objektiv dafür, dass der Krieg im Sinne der herrschenden Klassen »bis zum Siege, der den Opfern entsprechen wird«, bis zum »gesicherten Frieden« fortgeführt werde. Mit anderen Worten sorgen die Anhänger des »Durchhaltens« dafür, dass die objektive Tendenz des Krieges möglichst nahe an all die imperialistischen Eroberungen heranführt, die von der »Post«, von den Rohrbach, Dix und anderen Propheten der Weltherrschaft Deutschlands als das Ziel des Krieges offen ausgesprochen worden sind. Wenn nicht alle diese schönen Träume zur Wirklichkeit und die Bäume des jungen Imperialismus noch nicht in den Himmel wachsen werden, wird es sowenig die Schuld der »Post«-Leute sein wie ihrer Schrittmacher in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie. Nicht die feierlichen »Erklärungen« im Parlament »gegen jede Eroberungspolitik« sind offenbar maßgebend für den Ausgang des Krieges, sondern die Befürwortung des »Durchhaltens«. Der Krieg, für dessen Fortsetzung die Scheidemann und Konsorten plädieren, hat seine eigene Logik, deren berufene Träger diejenigen kapitalistisch-agrarischen Elemente sind, die heute in Deutschland im Sattel sitzen, nicht aber die bescheidenen Figuren der sozialdemokratischen Parlamentarier und Redakteure, die ihnen bloß die Steigbügel halten. In dieser Richtung kommt die sozialimperialistische Haltung der Partei zum offensten Ausdruck.
Während auch in Frankreich die Parteiführer – freilich aus einer ganz anderen militärischen Situation heraus – noch an der Parole des »Durchhaltens bis zum Siege« festhalten, macht sich allmählich in allen Ländern immer mehr eine Bewegung für die baldigste Beendigung des Krieges bemerkbar. Was am meisten für all diese Friedensgedanken und -wünsche charakteristisch, ist die sorgfältige Aufstellung von Friedensgarantien, die bei der Beendigung des Krieges zu fordern sind. Nicht bloß die übereinstimmende Forderung: keine Eroberungen, sondern eine ganze Reihe neuer Postulate tauchen da auf: allgemeine Abrüstung, oder bescheidener, planmäßige Einschränkung des Wettrüstens, Abschaffung der Geheimdiplomatie, Freihandel für alle Nationen in den Kolonien und was der schönen Dinge mehr sind. Bewundernswert ist in all diesen Klauseln zur künftigen Beglückung der Menschheit und zur Verhütung künftiger Kriege der unverwüstliche Optimismus, der, aus der furchtbaren Katastrophe des gegenwärtigen Krieges unversehrt hervorgegangen, noch am Grabe alter Hoffnungen neue – Resolutionen pflanzt. Wenn der Zusammenbruch des 4. August etwas bewiesen hat, so ist es die welthistorische Lehre, dass eine wirksame Garantie des Friedens und ein tatsächlicher Schutzwall gegen Kriege nicht fromme Wünsche, nicht schlau ersonnene Rezepte und utopische Forderungen sind, die man an die herrschenden Klassen richtet, sondern einzig und allein der tatkräftige Wille des Proletariats, seiner Klassenpolitik, seiner internationalen Solidarität durch alle Stürme des Imperialismus treu zu bleiben. Nicht an Forderungen und Formeln, sondern an der Fähigkeit, hinter diese Forderungen den Willen und die Tat im Geiste des Klassenkampfes und der Internationalität zu setzen, hat es bei den sozialistischen Parteien der ausschlaggebenden Länder, vor allem bei der deutschen, gefehlt. Heute, nach allem, was wir erlebt haben, die Friedensaktion als eine Ausklügelung bester Rezepte gegen den Krieg auffassen hieße das Gefährlichste für den internationalen Sozialismus feststellen: nämlich dass er trotz aller grausamen Lehren nichts gelernt und nichts vergessen hat.
Auch hierfür finden wir in Deutschland das Musterbeispiel. In der »Neuen Zeit« stellte jüngst der Reichstagsabgeordnete Hoch ein Friedensprogramm auf, das er – wie ihm ein Parteiorgan bezeugte – mit großer Herzenswärme befürwortete. In diesem Programm fehlte nichts: weder eine nach Nummern aufgezählte Liste von »Forderungen«, die den künftigen Kriegen auf schmerzlose und sichere Weise vorbeugen sollen, noch eine sehr überzeugende Darlegung, dass der baldige Friede möglich, notwendig und erwünscht sei. Nur eines fehlte: die Erklärung, dass und auf welchen Wegen für diesen Frieden gewirkt, mit Taten, nicht mit »Wünschen« gewirkt werden soll! Der Verfasser gehört nämlich zu der kompakten Fraktionsmehrheit, die für Kriegskredite nicht bloß zweimal stimmte, sondern auch jedes Mal diese Zustimmung als eine politische, vaterländische, sozialistische Notwendigkeit befürwortete und, vorzüglich eingedrillt in der neuen Rolle, bereit ist, mit derselben Selbstverständlichkeit weitere Kredite für die Fortführung des Krieges zu bewilligen. Im gleichen Atem materielle Mittel zur Fortsetzung des Krieges zu befürworten und die Wünschbarkeit des baldigen Friedens mit all seinen Segnungen zu preisen, »mit der einen Hand der Regierung das Schwert in die Faust zu drücken, mit der anderen den sanften Palmwedel des Friedens über der Internationale zu schwingen«, das ist ein klassisches Stück der praktischen Sumpfpolitik, wie sie theoretisch in derselben »Neuen Zeit« propagiert wird. Wenn die Sozialisten neutraler Länder, wenn z. B. die Kopenhagener Konferenz [vom Januar 1915] die Ausarbeitung von Friedensforderungen und -rezepten auf dem Papier in allem Ernst für eine Aktion zur baldigen Beendigung des Krieges hält, so ist das eine verhältnismäßig harmlose Verirrung. Die Erkenntnis der springenden Punkte in der gegenwärtigen Situation der Internationale und der Ursachen ihres Zusammenbruchs kann und muss Gemeingut aller sozialistischen Parteien werden. Die rettende Tat zur Wiederherstellung des Friedens wie der Internationale kann nur von den sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder ausgehen. Der erste Schritt zum Frieden wie zur Internationale ist hier die Umkehr auf der Bahn des Sozialimperialismus. Und wenn die sozialdemokratischen Parlamentarier weiter die Mittel zur Kriegführung bewilligen, so sind ihre Friedenswünsche und -rezepte und ihre feierlichen Erklärungen »gegen jede Eroberungspolitik« im einzelnen das, was die Kautskysche »Internationale«, die sich »nichts vorzuwerfen hat« und die sich periodisch brüderlich umarmt oder sich die Hälse abschneidet, nämlich – eine Heuchelei und, was schlimmer noch, ein Wahngebilde. Auch hier haben die Dinge ihre eigene Logik. Mit der Bewilligung der Kriegskredite liefern die Hochs die Zügel aus der Hand und bewirken so gut das Gegenteil vom Frieden, nämlich das »Durchhalten«, wie die Scheidemanns, die durch die Befürwortung des »Durchhaltens« tatsächlich die Zügel an die »Post«-Leute ausliefern und so das Gegenteil ihrer feierlichen Erklärungen gegen »jede Eroberungspolitik« bewirken, nämlich die Entfesselung der imperialistischen Instinkte – bis zum Verbluten. Auch hier gibt es nur ein Entweder – Oder: entweder Bethmann Hollweg oder – Liebknecht. Entweder Imperialismus oder Sozialismus, wie ihn Marx verstand.
Wie in Marx selbst der scharfe historische Analytiker und der kühne Revolutionär, der Mann des Gedankens und der Mann der Tat, unzertrennlich miteinander verbunden waren, einander unterstützten und ergänzten, so hatte der Marxismus als sozialistische Lehre zum ersten Male in der Geschichte der modernen Arbeiterbewegung die theoretische Erkenntnis mit der revolutionären Tatkraft des Proletariats gepaart, die eine durch die andere durchleuchtet und befruchtet. Beide gehören gleichmäßig zum innersten Wesen des Marxismus; jede, getrennt von der anderen, verwandelt den Marxismus in ein trauriges Zerrbild seiner selbst. Die deutsche Sozialdemokratie hat im Laufe eines halben Jahrhunderts von der theoretischen Erkenntnis des Marxismus die reichsten Früchte geerntet, durch ihre Säfte einen mächtigen Körper großgezogen. Gestellt vor die größte historische Probe, eine Probe, die sie obendrein theoretisch mit der Sicherheit eines Naturforschers vorausgesehen und in allen wesentlichen Zügen vorausgesagt hatte, versagte ihr völlig das Zweite Lebenselement der Arbeiterbewegung: der tatkräftige Wille, um die Geschichte nicht bloß zu verstehen, sondern sie auch zu machen. Mitsamt ihrer mustergültigen theoretischen Erkenntnis und organisatorischen Kraft wurde sie, vom Wirbel des geschichtlichen Stroms erfasst, im Nu wie ein steuerloses Wrack umgedreht und unter die Winde des Imperialismus gestellt, gegen die sie sich zum rettenden Eiland des Sozialismus vorwärtsarbeiten sollte. Das Debakel der gesamten Internationale war schon mit diesem Missgeschick ihres »Vortrupps«, ihrer geschultesten, stärksten Elite selbst ohne die Irrungen anderer gegeben.
Ein welthistorischer Kataklysmus ersten Ranges, der die Befreiung der Menschheit von der blut- und schmutztriefenden Herrschaft des Kapitalismus in gefährlicher Weise kompliziert und verzögert. Wenn es aber so kommen musste, so ist dennoch der Marxismus daran völlig unschuldig. Und alle Versuche, ihn heute dem momentanen Marasmus der sozialistischen Praxis anzupassen, ihn zum feilen Apologetentum des Sozialimperialismus zu prostituieren, sind gefährlicher selbst als alle offenen und schamlosen Exzesse der nationalistischen Verirrung in den Reihen der Partei; diese Versuche führen dahin, nicht bloß die wirklichen Ursachen des tiefen Falls der Internationale zu verbergen, sondern auch die Quellen einer künftigen Aufrichtung aus diesem Fall zu verschütten. Die Internationale wie ein Friede, der dem Interesse der proletarischen Sache entspricht, können nur aus der Selbstkritik des Proletariats geboren werden, aus der Besinnung auf die eigene Macht des Proletariats, jene Macht, die am 4. August wie ein schwankes Rohr, vom Sturm gepeitscht, knickte, die aber, zu ihrer wahren Größe aufgerichtet, geschichtlich berufen ist, tausendjährige Eichen des sozialen Unrechts zu brechen und Berge zu versetzen. Der Weg zu dieser Macht – nicht papierne Resolutionen – ist zugleich der Weg zum Frieden und zum Wiederaufbau der Internationale.
zuerst in: »Die Internationale«, Heft 1 vom 15. April 1915 |
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