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Lenin ~ Der Partisanenkrieg |
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geschrieben im September 1906 |
Die Frage der Partisanenaktionen hat in unserer Partei und in den Arbeitermassen starkes Interesse geweckt. Wir haben diese Frage schon wiederholt gestreift und wollen jetzt die versprochene zusammenfassendere Darstellung unserer Ansichten geben.
Beginnen wir vorn. Welches sind die Grundforderungen, die jeder Marxist bei der Untersuchung der Frage der Kampfformen stellen muß? Erstens unterscheidet sich der Marxist von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, daß er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet. Er erkennt die verschiedensten Kampfformen an, und zwar »erfindet« er sie nicht, sondern faßt nur die im Verlauf der Bewegung von selbst entstehenden Formen des Kampfes der revolutionären Klassen verallgemeinernd zusammen, organisiert sie und verleiht ihnen Bewußtheit. Der Marxismus lehnt alle abstrakten Formeln, alle doktrinären Rezepte entschieden ab und fordert ein aufmerksames Eingehen auf den sich tatsächlich abspielenden Massenkampf, der mit der fortschreitenden Entwicklung der Bewegung, mit dem wachsenden Bewußtsein der Massen, mit der Verschärfung der ökonomischen und politischen Krisen immer neue und mannigfaltigere Methoden der Verteidigung und des Angriffs hervorbringt. Deshalb denkt der Marxismus gar nicht daran, ein für allemal irgendwelche Kampfformen abzulehnen. Der Marxismus beschränkt sich keineswegs nur auf die Kampfformen, die im gegebenen Augenblick allein möglich sind und angewandt werden, sondern hält es für unvermeidlich, daß bei der Änderung der jeweiligen sozialen Situation neue, in der gegebenen Periode unbekannte Kampfformen aufkommen. Der Marxismus lernt in dieser Beziehung, wenn man sich so ausdrücken darf, aus der Massenpraxis und ist weit davon entfernt, darauf Anspruch zu erheben, die Massen Kampfformen zu lehren, die von Stuben»systematikern« ertüftelt werden. Wir wissen, sagte zum Beispiel Kautsky, als er die Formen der sozialen Revolution untersuchte, daß die kommende Krise uns neue Kampfformen bringen wird, die wir jetzt nicht voraussehen können. Zweitens fordert der Marxismus unbedingt ein historisches Herangehen an die Frage der Kampfformen. Diese Frage außerhalb der historisch-konkreten Situation behandeln heißt das Abc des dialektischen Materialismus nicht verstehen. In verschiedenen Augenblicken der ökonomischen Evolution, in Abhängigkeit von den verschiedenen politischen, national-kulturellen Bedingungen, den Lebensverhältnissen usw. treten verschiedene Kampfformen in den Vordergrund, werden zu Hauptformen des Kampfes, und im Zusammenhang hiermit erfahren wiederum auch die zweitrangigen Kampfformen, die Kampfformen von untergeordneter Bedeutung, eine Veränderung. Zu versuchen, die Frage der Anwendbarkeit eines bestimmten Kampfmittels zu bejahen oder zu verneinen, ohne eingehend die konkrete Situation der gegebenen Bewegung auf der gegebenen Stufe ihrer Entwicklung zu untersuchen, heißt den Boden des Marxismus völlig verlassen.
Das sind die beiden grundlegenden theoretischen Leitsätze, die wir zur Richtschnur nehmen müssen. Die Geschichte des Marxismus in Westeuropa gibt uns eine Unmenge von Beispielen, die das Gesagte bestätigen. Die europäische Sozialdemokratie hält gegenwärtig den Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung für die Hauptformen des Kampfes. Sie hat früher den Aufstand anerkannt und ist durchaus bereit, ihn auch in der Zukunft bei Änderung der Situation anzuerkennen – entgegen der Meinung der liberalen Bourgeois vom Schlage der russischen Kadetten und Bessaglawzen. Die Sozialdemokratie hat in den siebziger Jahren den Generalstreik als ein soziales Allheilmittel, als Mittel zum sofortigen Sturz der Bourgeoisie auf unpolitischem Wege, abgelehnt – aber die Sozialdemokratie erkennt den politischen Massenstreik (besonders nach der Erfahrung Rußlands von 1905) als eines der Kampfmittel, das unter bestimmten Bedingungen notwendig ist, durchaus an. Die Sozialdemokratie hat in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Straßen- und Barrikadenkampf anerkannt, sie hat ihn auf Grund bestimmter Voraussetzungen am Ende des 19. Jahrhunderts abgelehnt – und sie hat ihre völlige Bereitschaft erklärt, diese letztere Ansicht zu revidieren und nach den Erfahrungen Moskaus, das nach den Worten K. Kautskys eine neue Barrikadentaktik hervorgebracht hat, den Barrikadenkampf als zweckmäßig anzuerkennen.
Nachdem wir diese allgemeinen Leitsätze des Marxismus festgestellt haben, wollen wir zur russischen Revolution übergehen. Erinnern wir uns an die geschichtliche Entwicklung der Kampfformen, die sie hervorgebracht hat. Zuerst wirtschaftliche Streiks der Arbeiter (1896 bis 1900), dann politische Demonstrationen der Arbeiter und Studenten (1901 und 1902), Bauernunruhen (1902), der Beginn von politischen Massenstreiks in verschiedenartigen Verbindungen mit Demonstrationen (Rostow 1902, die Sommerstreiks von 1903, der 9. Januar 1905), der politische Generalstreik in ganz Rußland mit Barrikadenkämpfen an einzelnen Orten (Oktober 1905), Barrikadenmassenkampf und bewaffneter Aufstand (Dezember 1905), friedlicher parlamentarischer Kampf (April bis Juni 1906), Teilaufstände in der Armee und in der Flotte (Juni 1905 bis Juli 1906), Teilaufstände der Bauern (Herbst 1905 bis Herbst 1906).
Das war der Stand der Dinge bis zum Herbst 1906 vom Standpunkt der Kampfformen schlechthin. Die Kampfform, mit der die Selbstherrschaft »antwortete«, war der Schwarzhunderterpogrom, angefangen vom Kischinjower Pogrom im Frühjahr 1903 und endend mit dem Sedlezer Pogrom vom Herbst 1906. In dieser ganzen Zeit macht die Organisierung der Schwarzhunderterpogrome und der blutigen Ausschreitungen gegen Juden, Studenten, Revolutionäre und klassenbewußte Arbeiter immer weitere Fortschritte, wird immer mehr vervollkommnet, zu den Gewalttätigkeiten eines gekauften Mobs gesellen sich die Gewalttätigkeiten von Schwarzhundertertruppen, es kommt zum Einsatz von Artillerie in Dörfern und Städten, Strafexpeditionen werden unternommen, auf den Bahnstrecken kursieren Strafzüge usw.
Das ist der allgemeine Hintergrund des Bildes. Von diesem Hintergrund hebt sich – zweifellos als ein einzelner Zug, als etwas Zweitrangiges, Untergeordnetes – die Erscheinung ab, deren Untersuchung und Bewertung der vorliegende Aufsatz gewidmet ist. Was ist das für eine Erscheinung? welches sind ihre Formen? ihre Ursachen? Zeit der Entstehung und Grad der Verbreitung? ihre Bedeutung im allgemeinen Gang der Revolution? ihre Beziehung zu dem von der Sozialdemokratie organisierten und geleiteten Kampf der Arbeiterklasse? Das sind die Fragen, zu denen wir jetzt übergehen müssen, nachdem wir den allgemeinen Hintergrund des Bildes entworfen haben.
Die Erscheinung, die uns hier interessiert, ist der bewaffnete Kampf. Er wird von einzelnen Personen und kleinen Gruppen geführt. Teil gehören sie revolutionären Organisationen an, teils (in manchen Gegenden Rußlands zum größten Teil) gehören sie keiner revolutionären Organisation an. Der bewaffnete Kampf verfolgt zwei verschiedene Ziele, die man streng auseinanderhalten muß: dieser Kampf hat erstens die Tötung von einzelnen Personen, Vorgesetzten und Subalternen im Polizei- und Heeresdienst, zweitens die Beschlagnahme von Geldmitteln sowohl bei der Regierung als auch bei Privatpersonen zum Ziel. Die beschlagnahmten Mittel fließen teils der Partei zu, teils werden sie speziell zur Bewaffnung und Vorbereitung des Aufstands, teils für den Unterhalt der Personen verwandt, die den von uns geschilderten Kampf führen. Die Mittel, die bei den großen Expropriationen erbeutet wurden (mehr als 200.000 Rubel bei der kaukasischen, 875.000 Rubel bei der Moskauer Expropriation), flossen in erster Linie den revolutionären Parteien zu – kleinere Expropriationen dienen vor allem, manchmal aber auch ausschließlich, dem Lebensunterhalt der »Expropriateure«. Einen besonderen Aufschwung und große Verbreitung erlangte diese Kampfform zweifellos erst im Jahre 1906, d. h. nach dem Dezemberaufstand. Die Verschärfung der politischen Krise bis zum bewaffneten Kampf und insbesondere die Verschärfung der Not, des Hungers und der Arbeitslosigkeit in Stadt und Land spielten unter den Ursachen, die den geschilderten Kampf hervorriefen, eine große Rolle. Als hauptsächliche und sogar ausschließliche Form des sozialen Kampfes wurde diese Kampfform von den deklassierten Elementen der Bevölkerung, von Lumpenproletariern und anarchistischen Gruppen aufgegriffen. Als Kampfform, mit der die Selbstherrschaft »antwortete«, sind der Ausnahmezustand, der Einsatz neuer Truppen, die Schwarzhunderterpogrome (Sedlez) und die Standgerichte zu betrachten.
Die Bewertung, die man dem hier betrachteten Kampf gewöhnlich zuteil werden läßt, läuft auf folgendes hinaus: das sei Anarchismus, Blanquismus, der alte Terror, es handle sich um Aktionen von Einzelpersonen, die von den Massen losgelöst sind, solche Aktionen demoralisierten die Arbeiter, stießen weite Kreise der Bevölkerung von ihnen ab, desorganisierten die Bewegung, schadeten der Revolution. Beispiele, die eine solche Bewertung zu bestätigen scheinen, lassen sich mit Leichtigkeit in den Ereignissen finden, über die die Zeitungen tagtäglich berichten.
Sind diese Beispiele aber beweiskräftig? Zur Prüfung diene ein Gebiet, in dem die geschilderte Kampfform die relativ größte Verbreitung erlangt hat – das lettische Gebiet. Da beklagt sich zum Beispiel das »Nowoje Wremja« (in seinen Nummern vom 9. und 12. September) über die Tätigkeit der Lettischen Sozialdemokratie. Die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (ein Teil der SDAPR) gibt ihre Zeitung regelmäßig in einer Auflage von 30.000 Exemplaren heraus. Im offiziellen Teil werden Listen von Spitzeln veröffentlicht, deren Vernichtung jedem ehrlichen Menschen zur Pflicht gemacht wird. Wer der Polizei Hilfe leistet, wird zum »Feind der Revolution« erklärt und ist dem Tode verfallen, außerdem verantwortet er mit seinem Eigentum. Die Sozialdemokraten weisen die Bevölkerung an, Geld für die Partei nur gegen abgestempelte Quittungen auszuhändigen. In der letzten Abrechnung der Partei werden unter den 48.000 Rubel Jahreseinnahmen 5.600 Rubel von der Libauer Abteilung angeführt, die für den Erwerb von Waffen durch Expropriation beschafft wurden. »Nowoje Wremja« schäumt natürlich vor Wut über diese »revolutionäre Gesetzgebung«, diese »Schreckensherrschaft«.
Niemand wird wagen, diese Tätigkeit der lettischen Sozialdemokraten als Anarchismus, Blanquismus oder Terrorismus zu bezeichnen. Weshalb? Weil hier die Verbindung der neuen Kampfform mit dem Aufstand, der im Dezember stattgefunden hat und der von neuem heranreift, klar ist. Nimmt man Rußland als Ganzes, so ist diese Verbindung nicht so klar ersichtlich, aber sie ist vorhanden. Es ist unzweifelhaft, daß der »Partisanen«kampf gerade nach dem Dezember Verbreitung erlangt hat, daß er mit der Verschärfung nicht nur der ökonomischen, sondern auch der politischen Krise im Zusammenhang steht. Der alte russische Terrorismus war eine Sache von Verschwörern aus der Intelligenz; jetzt wird der Partisanenkampf in der Regel von Arbeitern aus den Kampfgruppen oder einfach von erwerbslosen Arbeitern geführt. Auf den Gedanken, dies wäre Blanquismus oder Anarchismus, verfallen leicht Leute, die zur Schablonenhaftigkeit neigen; in der Situation des Aufstands, wie sie im lettischen Gebiet so klar hervortritt, sind solche auswendig gelernten Schlagworte jedoch ganz augenscheinlich nicht zu gebrauchen.
Am Beispiel der Letten kann man besonders deutlich erkennen, wie völlig unrichtig, unwissenschaftlich und unhistorisch es ist, den Partisanenkrieg, wie es bei uns gewöhnlich getan wird, unabhängig von der Situation des Aufstands zu analysieren. Man muß diese Situation in Betracht ziehen, muß bedenken, welche Eigenarten die Übergangszeit zwischen großen Aufstandsaktionen aufweist, muß begreifen, welche Kampfformen hierbei unvermeidlich entstehen, und darf nicht mit ein paar auswendig gelernten Worten wie Anarchismus, Raub, Ausschreitungen des Pöbels darüber hinweggehen, Worten, die den Kadetten wie den Leuten vom »Nowoje Wremja« gleichermaßen geläufig sind.
Man sagt, die Partisanenaktionen desorganisieren unsere Arbeit. Untersuchen wir, wieweit dies Urteil auf die Situation nach dem Dezember 1905, auf die Epoche der Schwarzhunderterpogrome und des Belagerungszustands zutrifft. Was desorganisiert die Bewegung in einer solchen Epoche mehr: das Fehlen eines Widerstands oder ein organisierter Partisanenkampf? Man vergleiche Zentralrußland mit den westlichen Randgebieten, mit Polen und dem lettischen Gebiet. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Partisanenkampf in den westlichen Randgebieten bedeutend weiter verbreitet und höher entwickelt ist. Und es unterliegt ebenso keinem Zweifel, daß die revolutionäre Bewegung überhaupt und die sozialdemokratische Bewegung im besonderen in Zentralrußland desorganisierter ist als in den westlichen Randgebieten. Es fällt uns natürlich gar nicht ein, hieraus den Schluß zu ziehen, die polnische und die lettische sozialdemokratische Bewegung wären Dank dem Partisanenkrieg weniger desorganisiert. Nein. Hieraus folgt nur, daß der Partisanenkrieg an der Desorganisierung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Rußland im Jahre 1906 nicht schuld ist.
Man weist hier nicht selten auf die Besonderheit der nationalen Bedingungen hin. Dieser Hinweis aber offenbart ganz besonders deutlich die Schwäche der landläufigen Argumentation. Wenn die nationalen Bedingungen das Ausschlaggebende sind, dann handelt es sich eben nicht um Anarchismus, Blanquismus oder Terrorismus – um allgemein russische oder sogar speziell russische Sünden –, sondern um etwas anderes. Untersucht dies andere konret, meine Herren! Ihr werdet dann sehen, daß die nationale Unterdrückung oder der nationale Antagonismus rein gar nichts erklären, denn diese hat es in den westlichen Randgebieten stets gegeben, den Partisanenkampf aber hat erst die gegebene historische Periode hervorgebracht. Es gibt viele Gebiete, wo es nationale Unterdrückung und nationalen Antagonismus gibt, aber nicht Partisanenkampf, der sich manchmal ohne jede nationale Unterdrückung entfaltet. Eine konkrete Untersuchung der Frage wird zeigen, daß nicht die nationale Unterdrückung, sondern die Bedingungen des Aufstands das Entscheidende sind. Der Partisanenkampf ist eine unvermeidliche Kampfform in einer Zeit, wo die Massenbewegung in der Praxis schon an den Aufstand heranreicht und mehr oder minder große Pausen zwischen den »großen Schlachten« des Bürgerkriegs eintreten.
Desorganisiert wird die Bewegung nicht durch Partisanenaktionen, sondern durch die Schwäche der Partei, die es nicht versteht, diese Aktionen in die Hand zu nehmen. Deshalb verbindet sich auch mit den bei uns Russen üblichen Bannflüchen gegen Partisanenaktionen die Tatsache, daß es geheime, zufällige, unorganisierte Partisanenaktionen gibt, die die Partei wirklich desorganisieren. Sind wir unfähig zu begreifen, welche geschichtlichen Bedingungen diesen Kampf hervorrufen, so sind wir auch unfähig, seine schlechten Seiten auszumerzen. Der Kampf aber nimmt nichtsdestoweniger seinen Fortgang. Gewichtige wirtschaftliche und politische Ursachen rufen ihn hervor. Wir sind nicht imstande, diese Ursachen und diesen Kampf zu beseitigen. Unsere Klagen über den Partisanenkampf, das sind Klagen über die Schwäche unserer Partei hinsichtlich des Aufstands.
Was wir über die Desorganisierung gesagt haben, gilt auch für die Demoralisierung. Nicht der Partisanenkrieg demoralisiert, sondern die Unorganisiertheit, die Systemlosigkeit der Partisanenaktionen, der Umstand, daß sie nicht von der Partei geleitet werden. Von dieser ganz unzweifelhaften Demoralisierung können wir uns auch nicht im geringsten dadurch frei machen, daß wir die Partisanenaktionen verurteilen und verfluchen, denn diese Urteile und Bannflüche sind durchaus nicht imstande, einer Erscheinung Einhalt zu gebieten, die durch tiefe wirtschaftliche und politische Ursachen hervorgerufen ist. Man wird entgegnen: Wenn wir nicht die Kraft haben, einer anormalen und demoralisierenden Erscheinung Einhalt zu gebieten, so ist das gar kein Argument dafür, daß die Partei zu anormalen und demoralisierenden Kampfmitteln übergeht. Ein solcher Einwand aber wäre bereits rein liberal-bürgerlich und nicht marxistisch, denn der Marxist kann den Bürgerkrieg oder den Partisanenkrieg als eine seiner Formen nicht für schlechthin anormal und demoralisierend halten. Der Marxist steht auf dem Boden des Klassenkampfes und nicht des sozialen Friedens. In bestimmten Perioden scharfer ökonomischer und politischer Krisen entwickelt sich der Klassenkampf zum unmittelbaren Bürgerkrieg, d. h. zum bewaffneten Kampf zwischen zwei Teilen des Volkes. In solchen Perioden ist der Marxist verpflichtet, auf dem Standpunkt des Bürgerkriegs zu stehen. Jede moralische Verurteilung des Bürgerkriegs ist vom Standpunkt des Marxismus völlig unzulässig.
In der Epoche des Bürgerkriegs ist das Ideal der Partei des Proletariats eine kriegführende Partei. Das ist ganz unbestreitbar. Wir geben durchaus zu, daß man vom Standpunkt des Bürgerkriegs die Unzweckmäßigkeit dieser oder jener Formen des Bürgerkriegs in diesem oder jenem Augenblick zu beweisen suchen und in der Tat beweisen kann. Eine Kritik der verschiedenen Formen des Bürgerkriegs vom Standpunkt der militärischen Zweckmäßigkeit halten wir für durchaus richtig und erklären uns unbedingt damit einverstanden, daß die entscheidende Stimme in einer solchen Frage den sozialdemokratischen Praktikern jeder einzelnen Gegend zusteht. Im Namen der Grundsätze des Marxismus verlangen wir aber unbedingt, daß man sich nicht mit abgenutzten und schablonenhaften Phrasen von Anarchismus, Blanquismus und Terrorismus um eine Analyse der Bedingungen des Bürgerkriegs drückt, daß man sinnlose Methoden bei Partisanenaktionen, wie sie von dieser oder jener Organisation der PPS in diesem oder jenem Augenblick angewandt worden sind, nicht zum Abschreckungsmittel gegen die Beteiligung der Sozialdemokraten am Partisanenkrieg überhaupt macht.
Die Hinweise auf eine Desorganisierung der Bewegung durch den Partisanenkrieg muß man kritisch betrachten. Jede neue Kampfform, die mit neuen Gefahren und neuen Opfern verbunden ist, wird unweigerlich die Organisationen, die auf diese neue Kampfform nicht vorbereitet sind, »desorganisieren«. Unsere alten Propagandistenzirkel wurden durch den Übergang zur Agitation desorganisiert. Unsere Komitees wurden späterhin durch den Übergang zu Demonstrationen desorganisiert. Jede Kampfhandlung in jedem beliebigen Krieg trägt eine gewisse Desorganisation in die Reihen der Kämpfenden. Hieraus darf man aber nicht folgern, daß man nicht Krieg führen dürfe. Hieraus muß man folgern, daß man lernen muß, Krieg zu führen. Und weiter nichts.
Wenn ich Sozialdemokraten sehe, die stolz und selbstzufrieden erklären: Wir sind keine Anarchisten, keine Diebe, keine Räuber, wir sind darüber erhaben, wir lehnen den Partisanenkrieg ab, dann frage ich mich: Begreifen diese Leute, was sie reden? Im ganzen Lande finden bewaffnete Zusammenstöße und Kämpfe zwischen der Schwarzhunderterregierung und der Bevölkerung statt. Auf der gegebenen Entwicklungsstufe der Revolution ist diese Erscheinung durchaus unvermeidlich. Die Bevölkerung reagiert auf diese Erscheinung spontan, unorganisiert – und gerade deshalb häufig in unzweckmäßigen und üblen Formen –, ebenfalls mit bewaffneten Handstreichen und Überfällen. Ich verstehe, daß wir infolge der Schwäche und mangelnden Vorbereitung unserer Organisation in einer bestimmten Gegend und in einem bestimmten Augenblick von der Führung dieses spontanen Kampfes durch die Partei Abstand nehmen können. Ich verstehe, daß diese Frage von den örtlichen Praktikern entschieden werden muß, daß die Umgestaltung der schwachen und nicht vorbereiteten Organisation keine leichte Sache ist. Wenn ich aber bei einem sozialdemokratischen Theoretiker oder Publizisten nicht Betrübnis über diese mangelnde Vorbereitung, sondern stolze Selbstzufriedenheit und selbstgefällig-begeisterte Wiederholung in früher Jugend auswendig gelernter Phrasen über Anarchismus, Blanquismus und Terrorismus sehe, dann kränkt mich diese Erniedrigung der allerrevolutionärsten Doktrin der Welt.
Man sagt, der Partisanenkrieg bringt das klassenbewußte Proletariat den heruntergekommenen Trunkenbolden und Lumpenproletariern nahe. Das ist richtig. Hieraus folgt aber nur, daß die Partei des Proletariats den Partisanenkrieg niemals als einziges oder gar wichtigstes Kampfmittel betrachten darf; daß dies Mittel anderen Mitteln untergeordnet, mit den wichtigsten Kampfmitteln in Einklang gebracht und durch den aufklärenden und organisierenden Einfluß des Sozialismus veredelt werden muß. Ohne diese letzte Bedingung bringen in der bürgerlichen Gesellschaft alle, entschieden alle Kampfmittel das Proletariat verschiedenen über oder unter ihm stehenden nichtproletarischen Schichten nahe und werden, überläßt man sie dem spontanen Gang der Ereignisse, verdorben, verunstaltet, prostituiert. Streiks, die dem spontanen Gang der Ereignisse überlassen werden, sinken zu »Alliances« – Vereinbarungen der Arbeiter mit den Unternehmern gegen die Konsumenten – herab. Das Parlament entartet zum Bordell, in dem eine Bande von bürgerlichen Politikastern en gros und en detail mit »Volksfreiheit«, »Liberalismus«, »Demokratie«, Republikanismus, Antiklerikalismus, Sozialismus und allen sonstigen gangbaren Waren handelt. Die Zeitung verwandelt sich in eine feile Kupplerin, in ein Werkzeug zur Korrumpierung der Massen, das den niedrigsten Instinkten der Menge grob schmeichelt usw. usw. Die Sozialdemokratie kennt keine universalen Kampfmittel, keine, die das Proletariat wie durch eine chinesische Mauer von den Schichten trennen, die etwas über oder etwas unter ihm stehen. Die Sozialdemokratie wendet in verschiedenen Epochen verschiedene Mittel an, wobei sie ihre Anwendung stets von streng festgelegten ideologischen und organisatorischen Bedingungen abhängig macht. [1]
Die Kampfformen der russischen Revolution unterscheiden sich von denen der bürgerlichen Revolutionen Europas durch ihre riesige Mannigfaltigkeit. Kautsky hat das zum Teil vorausgesagt, als er im Jahre 1902 davon sprach, daß die kommende Revolution (er fügte hinzu: vielleicht mit Ausnahme Rußlands) nicht so sehr ein Kampf des Volkes gegen die Regierung als ein Kampf des einen Teils des Volkes gegen den anderen sein wird. In Rußland sehen wir zweifellos eine breitere Entfaltung dieses zweiten Kampfes als in den bürgerlichen Revolutionen des Westens. Im Volk gibt es nur wenig Feinde unserer Revolution, aber sie organisieren sich mit der Verschärfung des Kampfes immer mehr und erhalten die Unterstützung der reaktionären Schichten der Bourgeoisie. Es ist daher durchaus natürlich und unvermeidlich, daß in einer solchen Epoche, in der Epoche der das ganze Volk erfassenden politischen Streiks, der Aufstand nicht die alte Form von Einzelaktionen annehmen kann, die sich auf eine sehr kurze Zeitspanne und auf ein sehr kleines Gebiet beschränken. Es ist ganz natürlich und unvermeidlich, daß der Aufstand die höheren und komplizierteren Formen eines langwierigen, das ganze Land erfassenden Bürgerkriegs, d. h. des bewaffneten Kampfes des einen Teils des Volkes gegen den anderen, annimmt. Einen solchen Krieg kann man sich nur vorstellen als eine Reihe von wenigen, durch verhältnismäßig große Zeitabstände voneinander getrennten großen Schlachten und eine Menge von kleineren Scharmützeln im Verlauf dieser Zwischenzeiten. Wenn das so ist – und zweifellos ist es so –, dann muß die Sozialdemokratie unbedingt ihre Aufgabe darin sehen, Organisationen zu schaffen, die in möglichst hohem Maße dazu befähigt sind, die Massen sowohl in diesen großen Schlachten als auch, nach Möglichkeit, in diesen kleineren Scharmützeln zu führen. Die Sozialdemokratie muß sich in einer Epoche, in der sich der Klassenkampf zum Bürgerkrieg verschärft hat, die Aufgabe stellen, an diesem Bürgerkrieg nicht nur teilzunehmen, sondern auch die führende Rolle in ihm zu spielen. Die Sozialdemokratie muß ihre Organisationen dazu erziehen und vorbereiten, daß sie wirklich als kriegführender Teil handeln, der keine Gelegenheit unbenutzt läßt, die Kräfte des Gegners zu schwächen.
Das ist fraglos eine schwierige Aufgabe. Sie kann nicht mit einem Schlage gelöst werden. Wie das ganze Volk im Verlauf des Bürgerkriegs im Kampfe umerzogen wird und im Kampfe lernt, so müssen auch unsere Organisationen erzogen und auf Grund der gesamten Erfahrungen so umgebildet werden, daß sie dieser Aufgabe gerecht werden.
Wir erheben nicht den geringsten Anspruch darauf, den Genossen, die in der praktischen Arbeit stehen, irgendeine ausgeklügelte Kampfform aufzudrängen oder gar vom Schreibtisch aus die Frage zu entscheiden, welche Rolle die einen oder anderen Formen des Partisanenkrieges im Gesamtverlauf des Bürgerkriegs in Rußland spielen sollen. Uns liegt der Gedanke fern, in der konkreten Beurteilung der einen oder anderen Partisanenaktion die Frage einer Richtung in der Sozialdemokratie zu sehen. Aber wir sehen unsere Aufgabe darin, nach Maßgabe unserer Kräfte zu einer richtigen theoretischen Beurteilung der neuen Kampfformen beizutragen, die das Leben hervorbringt; wir sehen unsere Aufgabe darin, rücksichtslos die Schablonen und Vorurteile zu bekämpfen, die die bewußten Arbeiter daran hindern, diese neue und schwierige Frage in der richtigen Weise zu stellen und richtig an ihre Lösung heranzugehen.
[1] Die bolschewistischen Sozialdemokraten werden häufig einer leichtsinnig-parteiischen Stellungnahme zu den Partisanenaktionen beschuldigt. Es ist daher nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß im Entwurf der Resolution über die Partisanenaktionen (Nr. 2 der »Partinyje Iswestija« und Lenins Bericht über den Parteitag) der Teil der Bolschewiki, der sie verteidigt, für ihre Anerkennung folgende Bedingungen aufgestellt hat: Expropriationen von Privateigentum wurden überhaupt für unzulässig erklärt; Expropriationen von staatlichem Eigentum wurden nicht empfohlen, sondern nur unter der Bedingung für zulässig erklärt, daß sie der Kontrolle der Partei unterstehen und daß die erbeuteten Mittel für Aufstandszwecke verwandt werden. Terroristische Partisanenaktionen gegen Vertreter des Gewaltregimes und aktive Schwarzhunderter wurden empfohlen, jedoch unter folgenden Bedingungen: 1. daß man der Stimmung der breiten Massen Rechnung trägt; 2. daß die Bedingungen der Arbeiterbewegung in der betreffenden Gegend in Betracht gezogen werden; 3. daß dafür gesorgt wird, daß die Kräfte des Proletariats nicht unnütz vergeudet werden. Der praktische Unterschied zwischen der Resolution, die auf dem Vereinigungsparteitag angenommen wurde, und diesem Entwurf besteht einzig und allein darin, daß Expropriationen von staatlichem Eigentum für unzulässig erklärt wurden. [Anmerkung des »Proletari«.]
erschienen am 30. September 1906 in »Proletari«, Nr. 5 |
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